Von Andreas Steinhardt 05.10.2024 um 14:47 Uhr | melden
Zur heutigen Gedenkkerze ein Gedicht von Erich Kästner. Der Oktober zeigt sich heute von seiner schönen Seite, auch der morgige Sonntag wird für hiesige Breitengrade als sehr freundlich prognostiziert.
Nun, "frösteln", wie in den Versen von Kästner beschrieben, tut es zwar noch nicht - aber lang wird es damit nicht mehr auf sich warten lassen.
Wilhelm hätte sich an solch einem strahlenden Oktobertag noch einmal, vielleicht nur mit einer Weste oder Pullover bekleidet, unter seinen alten
Apfel- oder Birnbaum gesetzt, den ersten umherfliegenden Blättern hinterher gesehen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen...
Der Oktober
von Erich Kästner
Für Wilhelm. Für Axel.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Was vorüber schien, beginnt.
Chrysanthemen blühn und frieren.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Und du folgst ihr wie ein Kind.
Geh nur weiter, bleib nicht stehen.
Kehr nicht um, als seis zuviel.
Bis ans Ende musst du gehen,
hadre nicht in den Alleen.
Ist der Weg denn schuld am Ziel?
Geh nicht wie mit fremden Füßen
und als hättst du dich verirrt.
Willst du nicht die Rosen grüßen?
Lass den Herbst nicht dafür büßen,
dass es Winter werden wird.
Auf den Wegen, in den Wiesen
leuchten, wie auf grünen Fliesen,
Bäume bunt und blumenschön.
Sinds Buketts für sanfte Riesen?
Geh nur weiter, bleib nicht stehn.
Blätter tanzen sterbensheiter
ihre letzten Menuetts.
Folge folgsam dem Begleiter.
Bleib nicht stehen. Geh nur weiter,
denn das Jahr ist dein Gesetz.
Nebel zaubern in der Lichtung
eine Welt des Ungefährs.
Raum wird Traum. Und Rausch wird Dichtung.
Folg der Zeit. Sie weiß die Richtung.
„Stirb und werde!“ nannte ers.
Emil Erich Kästner, *23. Februar 1899 in Dresden, +29. Juli 1974 in München.
Kästner war ein dt. Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter - "Das doppelte Lottchen" oder "Emil und die Detektive" werden fast jedem etwas sagen. Er zählt zu den Autoren von Weltgeltung. 1959 bekam Kästner das Große Bundesverdienstkreuz.