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Von Helma 10.11.2016 um 20:16 Uhr | melden
Eine Engelsgeschichte
Es war einmal ein kleiner Engel im Himmel, der die Menschen mit solcher
Nähe und Zärtlichkeit begleitete, dass er den unwiderstehlichen Wunsch
empfand, nicht nur mit seinem Flügeln über die Erde zu schweben und
schützend die Menschen zu achten, sondern er wollte selbst auf ihren
Strassen gehen, einer von ihnen werden.
Eines Tages sah er auf der Erde eine eben erblühte Mohnblume. Da schien
dem kleinen Engel, als habe er im Himmel noch nie ein solches Rot
empfunden und seine Sehnsucht, zur Erde zu gehören, wuchs.
So trat er vor Gottes Angesicht und bat: “Laß mich auf die Erde, laß
mich ein Mensch unter Menschen werden.“ Da trat ein erhabener,
weiser Engel dazu und sagte: „ Weißt du auch, dass es auf der Erde
nicht nur Sonne und Blumen gibt? Es gibt Stürme und Unwetter
und allerlei Ungemütliches.“ „Ja“, erwiderte der kleine Engel,“ das weiß ich.
„Doch sah ich auch einen Menschen, der hatte die Kraft, einen
großen Schirm aufzuspannen, so dass zwei Menschen darunter Platz hatten
.“ Es schien mir, den Beiden könnte kein Unwetter etwas anhaben.“
Da lächelte Gott dem kleinen Engel zu.
Die Zeit verging, und eines Tages erschien der kleine Engel
wieder vor Gottes Angesicht und sprach. „ Ich habe mir noch mehr
angesehen von der Welt. Es zieht mich mehr und mehr hinunter.“
Da trat der erhabene, weise Engel wieder hinzu und entgegnete:
„Weißt du auch, dass es Nebel und Frost und eine Menge
verschiedene Arten von Glatteis gibt auf der Welt?“
Da antwortete der kleine Engel: „ ja ich weiß um manche
Gefahren, doch sah ich auch Menschen, die teilten ihre warmen
Mäntel. Und andere Menschen, die gingen bei Glatteis Arm in Arm.“
Da lächelte Gott dem kleinen Engel erneut zu.
Als wieder einige Zeit vergangen war, trat der kleine Engel
zum drittenmal vor Gottes Angesicht und bat: „Laß mich ein
Mensch werden. So rot blüht der Mohn auf der Erde.
Mein Herz ist voll Sehnsucht, etwas zu diesem Blühen beizutragen.“
Da trat der erhabene, weise Engel ganz nah zu dem kleinen
Engel und fragte mit ernster Stimme: „Hast du wirklich genug
hingesehen, das Leid und das Elend geschaut, die Tränen und
Ängste, die Krankheiten, Sünde und den Tod geschaut“
Mit fester Stimme erwiderte der kleine Engel: „Wohl habe ich
auch das Düstere, Traurige und Schreckliche gesehen. Doch
ich sah auch einen Menschen der trocknete einem anderen die
Tränen, der vergab einem Schuldigen und der reichte einem
Sterbenden die Hand. Ich sah eine Mutter, die wiegte ihr
krankes, ausgemergeltes Kind durch viele Nächte und wurde
nicht müde, die alte leise Melodie der Hoffnung zu summen.
Solch ein Mensch möchte ich werden.“
Da trat der erhabene, weise Engel zurück und Gott schenkte
dem kleinen Engel seinen Segen und gab ihm viel Himmelslicht
mit auf die lange Reise.
Bevor der kleine Engel zur Erde niederstieg, nahm ihm der
erhabene, weise Engel einen Flügel ab und der andere Flügel
wurde unsichtbar. Da fragte der kleine Engel: „Mein Gott,
wie soll ich vorwärts kommen und wie zurück finden ohne Flügel?“
„Das herauszufinden wird deine Lebensaufgabe sein“, hörte er
Gottes Stimme zärtlich sagen.
In dieser Nacht kam ein kleines Kind zur Welt. Seine Mutter,
noch vor Schmerz und Anstrengung betäubt, nahm das Kind
in die Arme, sah das Himmelslicht wie einen Lockenkranz
um das Köpfchen des Kindes leuchten und flüsterte:
„ Sei willkommen unter uns, mein kleiner Engel.“
Noch lange sah man das Himmelslicht um das Kind.
Doch wie das Leben so ist, es beschmutzt auch die reinsten
und hellsten Lichter. All die vielen Einflüsse, die Härte und
der Kampf taten ein übriges. Bald sah niemand mehr,
dass der Mensch himmlisches Licht in sich trug.
Zwar machte sich der unsichtbare Flügel hier und da bemerkbar,
doch was bei dem Kind als träumerischer, schwebender
Schritt wahrgenommen wurde, das wirkte bei dem
Heranwachsenden eher als unsicheres Schwanken und
dann beim Erwachsenen dann nur noch als Hinken und Stolpern.
Je länger der Mensch, der einst ein Engel gewesen war, auf den
staubigen und steinigen Wegen des Lebens ging, die mühsamen
Treppen bestieg, die steil abfallenden dornigen Hänge hinunter
strauchelte, desto mehr hatte er vergessen, woher er kam und
weshalb er hier wanderte. Einzig die große Liebe zu den kleinen
roten Mohnblumen, die an Wegrändern und Magerwiesen blühten,
war ihm geblieben.
Viel Leidvolles begegnete dem Menschen auf seinem Lebensweg.
Zwar konnte er manchmal eine Träne trocknen, zwar reichte er
ab und zu einem schwankenden Mitmenschen die Hand, zwar
brach er zuweilen sein Brot mit einem Hungernden, doch die
meisten Rätsel blieben und er merkte mehr und mehr, wie
wenig er tun konnte und wie vieles er unerledigt zurücklassen musste.
Seine Kraft reicht nur für ganz wenig, und oft schien es ihm als
bewirkte sein Leben nichts.
Jeden Frühling aber blühte der Mohn an den Straßenrändern
und erfreute des Menschen Herz. Nach einem besonders langen
kalten Winter, in dem der Mensch kaum genug Wärme und Schutz,
Raum und Nahrung, Freundschaft und Brot gefunden hatte,
konnte er sich nur noch langsam und mühsam fortbewegen.
Er musste viele Pausen machen und schlief vor Erschöpfung am Wegrand ein.
Da erblickte er weit über sich auf einem unerreichbar hohen Felsen
eine kleine Wiese voll roten Mohn.
Der Mensch rieb sich die Augen. So rot, so rot erblühte der Mohn!
Beim Anblick dieser Blumen wünschte er so sehr, dass er allen
Menschen, denen er begegnete und allen Tieren, die um ihn waren,
eine solche Blume und so ein klares, inniges Rot als Zeichen der
Liebe schenken dürfe.
Da bemerkte er neben sich einen Wanderer, genauso müde,
genauso gezeichnet von der langen Strasse wie er. „Wohin
schaust du so voller Sehnsucht und voller Wehmut?“ fragte dieser.
„Dort auf die Mohnblüten. So müsste die Farbe unserer Liebe sein.“
„Weißt du denn nicht, wie schnell diese Art Blumen welken, wie
wunderbar sie sind?“ kam die Frage des Wanderers. Der Mensch,
der einst ein Engel gewesen war flüsterte: „Ich weiß um ihre Sterblichkeit.
Trotzdem ist kein roteres Rot in der Welt und in meinem Herzen.
Diese Blumen sind wie die Liebe, mag das Äußere auch welken,
ihr Rot bleibt in der Seele“: Da schauten sich die beiden Menschen
ins Gesicht und erkannten den letzten Funken Himmelslicht in den
Augen des Anderen. Sie sahen, woher sie kamen, wozu sie gewandert
waren und wohin sie noch unterwegs waren.
Und sie sahen an sich jeweils einen Flügel.
Voller Freude umarmten sie sich. Da geschah das Wunder.
Sie erreichten das Mohnfeld, gemeinsam konnten sie fliegen, denn...
Menschen sind Engel
mit nur einem Flügel –
Um Fliegen zu können müssen
sie sich umarmen.
Zu dieser Stunde sagte Gott im Himmel. „Du hast herausgefunden,
wozu du unterwegs warst und ich dich aussandte.
Dein Mohn blüht jetzt im Himmel, komm heim!“
Herzensgrüße für dich liebe Christine
Helma mit Eva