Möge Gott Erbarmen mit Dir haben
Du wertvoller Mensch, ich danke Dir!
Du hast meine Kinder und mich in Dein Haus aufgenommen, warst uns viele Jahre lang ein guter, freundlicher, ja liebevoller Nachbar.
Dein Lächeln erhellte oft unsere Tage. Deine Güte erwärmte unsere Herzen.
Auf Wiedersehen, lieber Salih. Möge Dein Weg so sein, wie Du ihn vor Augen hattest.
Salih Sanli war 16 Jahre unser Hausherr und Vermieter. Wir lebten also mit ihm unter seinem Dach. Nie ist mir ein friedlicherer, freundlicherer Mensch begegnet. Deshalb schreibe ich hier einige Anekdoten nieder, damit jener, der vielleicht nach ihm suchen mag, auch diese Seiten von ihm kennenlernen kann.
Lange suchte ich in München für meine drei Kinder und mich eine Wohnung. Es war zum Verzweifeln. Die Konstellation "alleinerziehende Mutter mit drei kleinen Kindern" hatten die hiesigen Vermieter nicht gern.
Dann fand ich eine Annonce in der Süddeutschen Zeitung. Ich vereinbarte mit einer Maklerin den Besichtigungstermin. Vor Ort gingen wir ins Haus. "Hier unten wohnt der Vermieter." sagte die Maklerin. Oh, Schreck!, dachte ich. Der Vermieter wohnt mit im Haus!
Wir stiegen die Stufen nach ganz oben zur Wohnung. Die Maklerin stellte dort fest, dass die Schlüssel nicht an der vereinbarten Stelle lagen. Hektisch telefonierte sie und sagte den anwesenden Wohnungssuchenden dann, der Vermieter käme gleich. Kurze Zeit später kam er dann. Aber nicht mit den Schlüsseln, nein - mit Schraubenzieher und Zange. Er lächelte uns alle freundlich nickend an, bat uns, beiseite zu treten und ... brach seine eigene Wohnung auf - vor unser aller Augen. Den Schlüssel werde er suchen müssen, meinte er noch kurz und verabschiedete sich wieder.
Es war zum Niederknien. Der Typ ist nicht nur in seine eigene Wohnung, sondern auch in mein Herz eingebrochen.
Zu meiner extremen Verblüffung bekam ich die Wohnung. Weil ich Kinder hätte, so die Maklerin. Wow! Eine wirklich großzügige Wohnung - jeder hatte ein eigenes Zimmer - mit kleinem Gemeinschaftsgarten mit Grill, in einem ruhigen, kinderfreundlichen, grünen Stadtviertel, dennoch nicht ab vom Schuss, nur drei Parteien im Haus, zu einem sehr, sehr moderaten Mietpreis. Es war, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Geschenk des Himmels. Salih Sanli, der Moslem, nahm sich einer Familie an, die es bitter nötig hatte. Es war nicht die Frage, ob wir seinen Glauben teilten. Ich bin Atheistin. Es ging auch nicht um Herkunft und Hautfarbe. Ich bin Ossi. Die dritte Familie im Haus ist halb äthiopisch. Darum ging es also Salih Sanli nicht. Er wollte helfen. Und er war ein Vorbild für gute Nachbarschaft.
Das alles wusste ich zu Beginn natürlich noch nicht. Ich war besorgt, dass meine Kinder zu viel Lärm machen könnten, dass zu viel Spielzeug im Garten läge oder Ähnliches. Ich hatte in dieser Beziehung keine guten Erfahrungen gemacht.
Eines Tages war ich mit vollem Wäschekorb auf dem Weg in den Keller. Oben (wir hatten die zwei Dachetagen ganz für uns) brach plötzlich Streit aus, lauter Streit. Die Kinder hatten sich in die Haare bekommen. Und vor seiner Wohnungstür begegnete mir Salih. Ich schaute verzweifelt, wies mit dem Kopf nach oben und zuckte mit den Schultern: "Entschuldigen Sie bitte den Lärm!" Darauf er freudestrahlend: "Das ist kein Lärm. Das ist Musik!" Ich kann nicht in Worte fassen, was dieser Satz in mir auslöste. Am liebsten hätte ich den Wäschekorb fallen lassen und diesen Mann ganz fest und lange umarmt. Aber die Höflichkeit gebot, einfach nur Danke zu sagen.
Im ersten Winter in unserem neuen Zuhause gab es sehr viel Schnee. Wenn wir morgens aus dem Haus gingen, waren die Wege immer schon geräumt. Ich ging davon aus, dass das eine Firma übernahm, bis ich eines Morgens aus dem Fenster in den noch dunklen Tag schaute und Salih unten Schnee schippen sah. Als ich ihm das nächste Mal begegnete, fragte ich ihn, wann ich denn mit dem Schneeschippen dran sei. Darauf er mit fester Stimme und (natürlich) lächelnd: "Das mache ich. Das ist gut für meine Gesundheit."
Es gab keinen Reinigungsplan fürs Haus, überhaupt gab es keine Vorschriften. Na gut, den Müll sollten wir ordentlich sortieren. Das wars aber auch schon. Leben und leben lassen, war Salihs Devise. Um auch ein bisschen was für unsere Gemeinschaft und das Haus zu tun, nahm ich mich des kleinen Gartens an. Er bemerkte das nicht nur erfreut. Er strahlte mich ein jedes Mal an, wenn ich mit dreckigen Händen im Garten hockte und etwas pflanzte oder baute. "Grün!", sagte er immer wieder, "Grün ist meine Lieblingsfarbe!" Oft kam er dann kurze Zeit später mit einem großen Tablett mit Tee und Gebäck aus seiner Wohnung. Und dann freute er sich, wenn alle Kinder des Hauses (es waren fünf) gierig tranken und mampften.
Eines Tages hing eine Tüte an unserer Wohnungstür. Ich schaute hinein. Sie enthielt ca. drei Kilo frisches Lammfleisch. Toll! Woher das kam, war mir sofort klar. Salih war Mezger. Er übte den Beruf zwar nicht mehr aus, schlachtete aber für Feiertage und andere Anlässe in seiner Gemeinde. Was mache ich nur?, dachte ich. Wie soll ich mich bedanken? In der Zwischenzeit hatte ich hin und wieder mit Salih über seine Religion geredet und auch hier und dort etwas darüber gelesen. Ich wusste, dass ich nicht für ihn kochen konnte. Unser Geschirr war in seinen Augen nicht rein. Und backen auch nicht. Beim Einkaufen stieß ich dann auf ein kleines Olivenbäumchen. Das nahm ich kurzerhand mit und stellte es vor seine Tür. Ein paar Tage später stand eine Kiste mit Spielzeug vor unserer Tür, sehr zur Freude der Kinder. Darauf schenkte ich ihm ein hübsches Glas Honig mit Pistazien.
Das wäre sicher ewig so weiter gegangen, wenn ich nicht so knapp bei Kasse und so ideenlos gewesen wäre. Aber es war eine wunderschöne und sehr lustige Begebenheit.
Wir beschränkten uns zukünftig darauf, dass er uns hin und wieder etwas zu Essen oder Fleisch schenkte und wir ihm an Weihnachten einen großen Obstteller (aus unserem türkischen Laden um die Ecke). Das wurde zur Tradition. Wir waren sehr dankbar für diese Gesten.
Doch es ging noch viel tiefer - und zu seinen Lebzeiten hätte ich das sicher nie so an die Öffentlichkeit gebracht.
Als wir ungefähr drei Jahre im Hause lebten, bat er mich einmal ziemlich ernst darum, mit ihm zu kommen. Ich solle mir aber etwas um die nackten Schultern legen. Es war sehr warm an dem Tag, ich hatte ein ärmelloses Hemd an. Es war eine seltsame Situation, doch ich holte mir ein Tuch und folgte ihm in den Keller. Der Keller war riesig. Das ganze Grundstück schien unterkellert zu sein. Mir war nie so recht klar, was da unten hinter den vielen Türen eigentlich war. Wir gingen also hinab, und er öffnete feierlich eine der Türen. Dahinter verbarg sich ein großer Raum: Seine Moschee. Er erzählte ein bisschen, wann und warum er sie hier eingerichtet hatte. Ich fand das interessant. Aber irgendwie war mir auch ein bisschen merkwürdig zu Mute. "Wir könnten doch Du zueinander sagen.", meinte er. "Ja, klar!", sagte ich. Und dachte bei mir: Was will er mir sagen? Was soll ich hier? Er druckste noch ein wenig herum und fragte mich dann ganz leise, ob ich seine Frau werden wolle.
Wow! Ich war überwältigt. Sprachlos. Oh, je!
Nein, das konnte und wollte ich nicht. Ich mochte Salih wirklich sehr, sehr gern. Aber heiraten? Das ging nicht. Und ich verstand es auch nicht. Ich sagte ihm sofort, dass es mir leid täte, ich ihn aber nicht heiraten könne.
Ich hatte etwas Angst, dass unser Verhältnis sich von nun an ändern würde, dass er uns eventuell sogar aus dem Haus haben wollte. Aber er lächelte und nahm meine Antwort hin. Alles ging darauf hin einfach so weiter wie bisher.
Erst einige Zeit später begriff ich, was er mit diesem Angebot eigentlich meinte. Er wollte uns retten - mich und meine Kinder. Er wollte uns Sicherheit geben. Und er wollte uns vor unserem Unglauben retten. In seinen Augen, in seiner Welt war das sicher eine ganz, ganz große Geste. Ich lächle noch jetzt, während ich darüber schreibe.
So war Salih Sanli für mich, für uns - seine Mitbewohner.
Er wird fehlen in dieser Welt. Aber ein Teil seiner Güte tragen wir mit uns und bewahren es voll Achtung und Liebe in uns auf.
Lebe wohl, lieber Salih!
Salih Sanli wurde in Izmir geboren und starb am 21. November 2020 in München.