Robin
Bosch

von Robins Mama am 27.01.2015 - 20:14 Uhr | melden

„Eines Nachts im Seniorenstift“ oder „Gut, dass Gott mir nie das gibt, was ich verdient hätte, sondern mir in seiner Gnade Gabe über Gabe schenkt.“

Teil I - "Frau Wolter" - Sonntag, 01.02.2015

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„Ich weiß nicht warum die Alten immer nachts den Drang verspüren ihre Mitmenschen aus dem Bett klingeln zu lassen. Frau Wolter will Sie unbedingt sehen, dabei ist sie seit 2 Tagen im Sterbezimmer untergebracht und gibt kaum einen Laut von sich. Sie liegt einfach nur regungslos da und hat ihre Augen geschlossen. Als der Doc eben bei seiner nächtlichen Runde bei ihr vorbei schaute, meinte er, dass ich Sie sofort anrufen und dann Frau Wolter in Ruhe sterben lassen soll. Der ist gut, er hat sich wieder schlafen gelegt und ich kann mir die Nacht um die Ohren schlagen. Bevor ich es vergess, hab einen Kaffee aufgesetzt und frische Seelen besorgt. Es reicht, wenn sie fünf Minuten bei ihr bleiben, kommen sie dann zu mir ins Schwesternzimmer, dann können wir ausgelassen quatschen und ich bin nicht mehr so alleine.“

Lieber Gott im Himmel, wenn ich dieser Frau nicht gleich den Hals rumdrehen soll, dann musst Du Dir sofort ein Wunder einfallen lassen.

Ruhig und besonnen nickte ich nur, sodass sie ihren Gang ins Schwesternzimmer unverzüglich antreten konnte. Noch einmal atmete ich kräftig und bewusst ein, bevor ich an die Türe von Frau Wolter klopfte.

„Die Alten sind doch alle schwerhörig, gehen Sie nur hinein“, rief dieses … Nein, ich lasse mich nicht verleiten, schließlich will ich mich in Demut üben. Ein paar Sekunden brauchte ich zum Sammeln, in dieses In-mich-Gehen, um mich dann ein großes Stück weit von meiner Person zurück nehmen zu können, denn hier geht es allein um Frau Wolter und ihren Heimgang zu unserem geliebten Vater. Ein heiliger Moment, der in aller Liebe zu würdigen ist.

Das Zimmer ist dunkel. Der Geruch abgestanden und muffig. Eine kleine Nachtischlampe leuchtet in der Ecke, sodass der Weg zu Frau Wolters Bett gerade zu finden ist. Als ich mich ihr näherte, beugte ich mich zu Frau Wolters herunter und flüsterte ihr achtsam ins Ohr: „Frau Wolter, ich bin´s, warten Sie bitte auf mich, ich komme gleich wieder!“

Unbedingt die Fotos, der Rosenkranz und die schöne handgearbeitete Kerze ihrer Tochter muss ich ihr bringen. In ihrem einstigen liebevoll eingerichteten Zimmer stand alles auf seinem alten rechtmäßigen Platz – nur das Bett und Frau Wolter fehlte.

Wieder klopfte ich an, bepackt mit den schönen Lebenserinnerungen und wieder wartete ich ein paar Sekunden.
Vater, gib mir die Kraft ihr vorbehaltslos all die Liebe zu schenken, die sie auf ihrem neuen letzten Weg braucht. Danke Vater, gemeinsam schaffen wir das!

„Frau Wolter, Frau Wolter, bin wieder da. Ich hab hier was für Sie. Darf ich Ihnen die Sachen in den Schoß legen, ich möchte gerne die Vorhänge aufziehen, damit wir den strahlend schönen Sternenhimmel sehen. Der Mond nimmt gerade zu und leuchtet genau zu uns ins Zimmer hinein.“

Frau Wolter räusperte sich und ich vernahm ein leises: „Bitte, öffnen Sie auch das Fenster ein wenig, damit wir frei atmen können.“ Ihre Augen sind geschlossen. Wie zart und gebrechlich sie aussieht, obwohl sie bis zum Hals in diese Krankenhausdecke eingehüllt ist. Den Besucherstuhl ziehe ich ganz nah an ihr Bett heran, sodass ich mir sitzend ihre linke Hand unter der Decke hervorkramen kann – das hat sie gerne, wenn ich sie etwas berühre, ihre Hand liebevoll streichle. Ich weiß das von meinen vorherigen Besuchen.

„Frau Wolter schaffen Sie es Ihre rechte Hand hervor zu holen, damit Sie fühlen, was ich hier für Sie mitgebracht habe?“ Ich befreite Sie ein wenig von der schweren Decke und sie schaffte es mit einem freudigen Grinsen die Hand in ihrem Schoß frei abzulegen um nach den Erinnerungsstücken zu tasten.

„Ach liebe Frau Wolter, entschuldigen Sie, manchmal weiß ich gar nicht wo meine Gedanken sind. Ich will uns doch die wunderschöne Kerze von Ihrer Tochter anzünden und dann erzählen Sie mir etwas über Ihre Liebsten. Wollen Sie das?“
Ein leises „Ja, dafür habe ich Sie rufen lassen. Danke, dass Sie bei mir sind. Ich werde meine Augen weiterhin geschlossen halten, aber Sie können versichert sein, dass ich voll und ganz da bin“. Und wieder spürte ich den Schalk in ihrem Nacken, sie lächelte lausbübisch verschmitzt.

Mit ihrer rechten Hand strich sie andächtig über das Familienfoto. Ihre linke lag noch eingebettet in der meinigen.
„Mein Martin, ein guter fürsorglicher Mann und Vater! Gott hab ihn selig! Und links unser Erstgeborener. Hannes – am Johannestag erblickte er das Licht der Welt. Schon damals war er ein Ruhiger und Besonnener. Ließ uns eine Woche lang warten und ab da waren dann mein Martin und ich die glücklichsten „Erstlings-Eltern“, die es auf der ganzen Welt gab. Perfekt wurde unser Glück mit unseren beiden Mädchen. Angela – hier in der Mitte. Ja, sie war schon immer unser Mittelpunkt, unser quirliger Sonnenschein. Wo sie auftauchte – lachte der Himmel, selbst bei Regen.

Ihre Augen hielt sie nach wie vor geschlossen, ihre Stimme klang zärtlich und liebevoll, ihr Atem verlief ruhig und gleichmäßig und ihr Gesicht trug wunderbare engelhafte zufriedene und manchmal nachdenklich-weit-entfernte Züge…
„Gott hab sie alle selig. Unser Marlisle kam völlig unangemeldet - 13 Monate nach unserem Engel. Die Schwangerschaft hatte ich die ersten Monate gar nicht bemerkt, so sehr waren wir mit unserem neuen Familienglück beschäftigt. Wie siamesische Zwillinge – unzertrennlich unsere Mädchen - tief miteinander verwurzelt. Keine konnte oder wollte ohne die andere sein. Sie hatten die gleichen Freundinnen und trugen die gleichen Klamotten. Dramatisch wurde es als Angela zum Gymnasium wechselte und unser Marlisle noch ein Jahr in der Grundschule verweilen sollte. Plötzlich machte sie in der Schule so einen Notenvorsprung, dass die Lehrer auf uns zukamen und meinten, sie könne eine Klasse überspringen und gleich aufs Gymnasium wechseln. Martin und ich – wir waren da echt überfordert…keiner zuvor aus unseren Familien hatte jemals ein Gymnasium besucht. Aber das ist ja auch völlig unwichtig. Wir wollten, dass unser Marlisle ihre Kindheit noch eine Weile unbekümmert genießen sollte, ohne ständiges Vokabeln lernen, nachts noch einmal aufstehen und die Schulbücher wälzen zu müssen, wir sahen ja an Angela was sie für die neue Schule alles so zu leisten hatte. Auf einmal viel nichts mehr einfach so in den Schoß und täglich war etwas Neues aus dem facettenreichen Programm zu lernen. So entschieden wir uns gegen eine frühzeitige Versetzung. Marlies hat uns dies nie verziehen! Dennoch standen wir auf der Sonnenseite des Lebens. Manchmal lief es so glatt, dass uns bange wurde. Hannes absolvierte gleich zwei Berufsausbildungen und entschied sich für ein travel & work Jahr in Neuseeland. Er erfüllte sich seinen Traum bevor er konkret ins Berufsleben einsteigen wollte. Und dann kam der Tag… der Tag, der unser aller Leben schlagartig veränderte.

Schon mit 16 lag uns Angela ständig in den Ohren, dass sie mit 18 unbedingt den Führerschein und ihr erstes Auto haben wolle. Die Freiheit rief nach ihr – sie konnte so leidenschaftlich und ansteckend lachen! All ihr geschenktes Geld sparte sie und jobbte in den Ferien. Marliesle gab ihr sogar einen Kredit, genau so gewissenhaft ging sie mit Geld um wie ihre große Schwester. Martin und ich – wir haben es ja zuerst nicht zugeben können – waren jedoch rigoros von Anfang an gegen ein Auto und es fielen uns allerlei Ausreden ein…zuerst Abi und dann sehen wir mal weiter… Wir hätten es uns leisten können. Letztendlich war es unsere unbewusste Angst, die uns schon Jahre zuvor im Nacken saß… Beide, Martin und ich, wir hatten immer so ein ungutes Gefühl, das unsere Angela bei einem Autounfall ihr junges Leben verlieren könnte. Seltsam…bei unseren beiden anderen Kindern hatten wir das nie.

„Wenn Sie unser Haus nicht sofort verlassen, schlag ich sie tot!“ Hannes war so aufgebracht, als der Polizist am Tag X bei uns in der Stube stand und uns mitteilte…das es ihre Schuld gewesen sei, sie habe nicht aufgepasst, wäre zu leichtsinnig bei Rot über die Ampel gegangen. Der Andere könne nichts dafür und müsse jetzt in psychiatrische Behandlung. Sein und das Lebens seiner Familie sei nun auch kaputt.

Regungslos saß ich nur da und schaute meinen Männern zu, wie sie sich beide auf den Polizisten stürzten und ihn letztendlich vor die Türe setzten. Als Fußgängerin kam unsere Angela bei einem Verkehrsunfall ums Leben – wie ver-rückt ist denn das?! Martin holte den Aufgesetzten aus dem Küchenschrank und ab da waren sie beide beste Freunde. Hannes ertrug unsere Familie nicht mehr, die es denn so auch nicht mehr gab und Marlies und Marlies…

Unser Marlisle verkapselte sich. Rituale sollten wir uns schaffen, hieß es von überall her. Ihr müsst jetzt nach vorne blicken und alle in diesen stürmischen Zeiten zusammenhalten. Zu Angelas Beisetzung stand das ganze Dorf Kopf. Der Bestatter riet uns ab von Beileidsbekundungen am Grab, doch Martin und ich waren uns einig. Jeder, der sich von unserer Angela verabschieden möchte, den schließen wir für sie gebührend in unsere Arme, das ließen wir uns nicht nehmen. Wir konnten ja nicht wissen, dass es von den meisten Wegbegleitern ein Abschied auch für uns für allezeit bedeutete.

Sie ertrugen unsere Trauer nicht; gingen uns aus dem Weg, wenn sie uns sahen als hätten wir eine ansteckende Krankheit. Andere schrieben die ersten vier Wochen noch, dass sie immer für uns da seien, wir sollten uns halt melden, wenn wir Hilfe bräuchten. Martin sammelte die Briefe in einem schönen Karton und eines Abends warf er allesamt in das lodernde Kaminfeuer. „Alles leere Worte, leere Gesten … es hätte auch ihre Tochter sein können…wieso lässt unser Herrgott sowas überhaupt zu, wieso nimmt er unseren Sonnenschein, wo sie gerade auf der Schwelle ihres Glückes stand, wieso schickt er uns so einen herzlosen unprofessionellen Polizisten, wieso können die Leute nicht normal mit uns umgehen, wieso läufst du in die Kirche und lobst und preist unseren Schöpfer…wieso das alles? Ich verstehe unsere Welt nicht mehr, wir waren doch rechtschaffene Leute und haben alle unsere Kinder aus tiefstem Herzen geliebt und für alle unsere Mitmenschen unser letztes Hemd gegeben.“

Fortsetzung Seite II - "Frau Wolters letzte gesprochene Gedanken"