Robin
Bosch

von Robins Mama am 29.10.2013 - 18:41 Uhr | melden

Eine innere Begegnung mit den Verstorbenen, bei der sie Gestalt gewinnen und wieder wie lebendig werden, ist HEILSAM. Verstorbene bekommen dadurch einen guten Platz im eigenen Leben und in der Familie insgesamt.
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Der dynamische Jungmanager oder wie sich Tod in der Familie auswirkt

„Im Coaching kommt Herr Burger, 30 Jahre alt, schnell auf sein Hauptproblem zu sprechen. Er findet keine Ruhe mehr, kann nachts nicht schlafen und ist völlig überdreht. An seinem Arbeitsplatz, einer IT-Firma, ist er meist bis spätabends tätig, manchmal bis Mitternacht. In seiner wenigen Freizeit pflegt er Extremsportarten. Bungeespringen war eine Zeitlang sein Favorit, jetzt zieht es ihn mehr zum Motorradfahren. Seine letzte Beziehung endete vor drei Jahren. Er weiß nicht, warum, doch in den letzten Monaten kam er aus dem Lot. Seine Ruhelosigkeit verschlimmert sich. Jetzt leidet sogar schon seine Arbeit darunter.“

Ob Herrn Burger ein Kurs „Autogenes Training“ helfen könnte? Wer ein Entspannungsverfahren erlernt hat, weiß, wie er sich beruhigen kann. Den Versuch dazu hat Herr Burger allerdings schon einmal unternommen. Aber er fand die Entspannung für ihn schwierig, ja fast unmöglich. Nach zwei Versuchen hat er aufgegeben. Sich so künstlich ruhigzustellen, brachte es dann doch nicht für ihn!
Der familiäre Hintergrund sieht so aus: Herr Burger kommt aus einer gutbürgerlichen Familie und hat noch zwei ältere Geschwister. Eine kleine Schwester, die nach ihm geboren wurde, ist mit zwei Jahren gestorben.

Diese Informationen mögen äußerlich wenig spektakulär erscheinen. Aber der Tod ist in einer Familie immer ein gravierendes Ereignis. Der Tod, der in jungen Jahren erlebt wird, hat eine dauerhafte Wirkung. Das kann der Tod von Vater oder Mutter sein oder der Tod eines Geschwisters. Jedes Kind, das lebensfähig gewesen wäre (also etwa ab dem 5. Monat), zählt zu den Geschwistern, auch wenn es tot zur Welt kommt.

Die Wirkung eines solchen Todesfalles erfolgen unmittelbar und entziehen sich individuellen und persönlichen Eigenheiten. In den überlebenden Geschwistern, auch wenn sie noch ganz jung waren, entsteht eine Art von Schuldgefühl, denn sie sind am Leben geblieben, während der Bruder oder die Schwester sterben musste. Im tiefen Innern wird es erlebt, als sei es ein Unrecht weiterzuleben. Aus diesem Gefühl heraus entsteht in den Lebenden eine Neigung zum Tod, denn sie möchten dort sein, wo ihre Geschwister sind. „Ich folge dir nach.“ Dieser Satz drückt diese Bewegung zum Tod aus, die ihnen aber nicht bewusst ist. Aus diesem Schuldgefühl erwächst eine besondere Nähe, ja bisweilen ein Sog zum Tod. Wie sich dieser Hang zum Tod auswirkt, ist unterschiedlich. Er kann lähmen und schwächen. Es kann eine schwere chronische Krankheit auch in jungen Jahren auftreten. Der Lebenswille ist schwach, und der Körper reagiert mit Krankheiten. Andere gehen Richtung Tod, indem sie den Weg über Exzesse und Drogen nehmen. Oder wieder andere lieben lebensgefährliche Sportarten und setzen sich so dem Tod aus. So mancher Autoraser, der den Tod findet, mag diesem Sog erlegen sein. Manchmal wird diese Bewegung zum Tod hinter einer Art verzweifelter Lebenslust sichtbar oder hinter enormen Spannungen, die jemand zu Höchstleistungen antreiben, sei es im Spitzensport oder im Beruf.

Oft ist es die Todessehnsucht, die jemand immer wieder an die Grenze zwischen Leben und Tod führt. Die Angst vor dem Tod, die andere von dieser Gratwanderung abhält, scheint in solchen Personen nicht zu existieren. Das zeigen in typischer Weise die Aussagen von Jacques Villeneuve, Rennfahrer der Formel 1. Als er ein Kind war, starb sein Vater mit nur 32 Jahren ebenfalls als Rennfahrer in den Trümmern seines Ferraris. Der Sohn sagt heute im Interview: „Wenn man um die Krone des Motorsports fährt, dann muss man manchmal dieses Gefühl spüren: Uuh, das war knapp, was bin ich froh, dass es gereicht hat. Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge, und du weißt, beinahe wärst du runtergefallen.“ Und er fährt fort: „Eine körperliche Angst kenne ich nicht. Es gibt Momente, in denen mein Herz richtig stark anfängt zu schlagen und es tief drinnen wehtut. Es ist nicht Angst, aber es ist ein außergewöhnliches Gefühl.“
Herr Burger hat einen Hang zu Extremsportarten, er ist ruhelos und sein Arbeitseinsatz ist extrem. Aber die Vorstellung, dass all dies etwas mit der früh verstorbenen Schwester zu tun haben könnte, kommt ihm zunächst weit hergeholt vor. Klar weiß er um sie, hat sogar noch ein paar schwache Erinnerungen. Aber er war doch noch ein Kind, vom Tod hatte er keine Ahnung – und es ist schon so lange her!

Seine Einstellung ändert sich erst, als er sich auf das Experiment einlässt, seiner toten Schwester in seiner Vorstellung zu begegnen. Er lehnt sich zurück zum Stuhl, nimmt seinem Atem wahr und schließt die Augen.
Dann lässt er ein Bild seiner Schwester vor dem inneren Auge auftauchen.
Dabei ist das Bild des zweijährigen Kleinkinds, von dem er noch ein Foto hat, nur der Ausgangspunkt.
Die tote Schwester taucht jetzt vor dem inneren Auge älter auf. Sie wird wieder zum Gegenüber.
Als Herr Burger die Schwester innerlich sieht, schießen ihm Tränen in die Augen. Er wird plötzlich sehr traurig und fühlt sich liebevoll zur kleinen Schwester hingezogen. Etwas lang Vergessens kommt wieder ans Licht. Er spürt eine riesengroße Sehnsucht, der Schwester nahe zu sein. Und plötzlich macht es für ihn Sinn, dass seine Spannungen und sein extremes Leben hier ihre Wurzel haben.
Mit dem Wissen um die Wirkungen des frühen Tods erscheinen manche Ereignisse, von denen die Presse berichtet, in einem anderen Licht. Da wird zum Todestag von Elvis Presley, der mit 42 Jahren depressiv und 125 Kilogramm schwer starb, in einem mehrseitigen Fotobericht im „Stern“ bemerkt: „Einer der finanziell erfolgreichsten Künstler aller Zeiten war qualvoll gestorben – an zu vielen Drogen, maßlosem Ruhm und einer Überdosis Einsamkeit.“ Dann wird ein Bild aus dem Elternhaus mit zwei Betten gezeigt, neben dem steht: „Zur Erinnerung an den bei der Geburt gestorbenen Zwillingsbruder Jesse standen in Memphis immer zwei Betten.“ Elvis Presley starb an übermäßigem Gebrauch von Drogen und Verfettung durch übermäßiges Essen. Wie viel Spannungen muss Presley innerlich gespürt haben, die er durch Drogen und Essen gedämpft hat?

Herr Burger erkennt, dass er - so absurd es ihm im ersten Moment schien! – nach wie vor eine liebevolle Bindung zur früh verstorbenen Schwester hat. Diese Bindung zieht ihn in Richtung Tod oder, noch genauer gesagt, zu der toten Schwester hin. Natürlich gibt es auch die Gegenkraft in ihm, den Willen zu leben und die Freude am Leben. Aber aus diesen widersprüchlichen Richtungen, die ihn manchmal fast zerreißen, entstehen die enormen Spannungen, die er in sich trägt.

Gleichzeitig ist es eine alte, sehr kindliche Verbundenheit. Als Erwachsener kann er heute Schritte gehen, die diese Verbindung achten und ihn trotzdem davon abhalten, blindlings ins Unglück zu rennen. Dabei helfen bestimmte Fragen und Sätze, um zu dieser reiferen Haltung zu kommen.

Die erste Frage an Herrn Burger ist: „Sie sehen ja gerade vor ihrem inneren Auge ihre Schwester und fühlen sich sehr liebevoll ihr gegenüber. Wenn ihre Schwester sie so sieht, wie schaut ihre Schwester sie an?“ Das kann er leicht beantworten: „Sie schaut mich ganz freundlich an.“ Glauben Sie, dass es Ihrer Schwester guttut und gefällt, wenn Sie ihr im Tod nah sein wollen?“ Hier muss Herr Burger etwas überlegen und schaut erneut innerlich zu seiner Schwester, um sich zu vergewissern. „Nein, das würde sie nicht freuen. Sie scheint mir alles Gute für mein Leben zu wünschen, so nett wie sie zu mir schaut.“ „Dann sehen Sie ihr doch noch einmal in die Augen und stellen Sie sich vor, dass Ihre Schwester Ihnen sagt: „Dass ich früh gestorben bin, ist mein Schicksal, und ich trage es. Können Sie das hören und wie ist das für Sie?“ Wieder wartet Herr Burger einen Moment, bevor er antwortet: „Ja, jetzt höre ich es. Das tut mir sehr gut und erleichtert mich richtig.“

Dann folgen weitere wichtige Sätze, die Herr Burger seiner Schwester langsam und mit Pausen dazwischen sagen soll: „Ich achte dich und deinen Tod… Ich gebe dir als meiner Schwester einen großen Platz in meinem Herzen… Bitte, schau freundlich auf mich, wenn ich lebe.“ Er tut das und wird plötzlich ruhig. Eine Entspannung, die bei ihm bisher nie zu sehen war, breitet sich aus. Damit kann er dann auch diese innere Begegnung beenden.

War das ein Spiel mit inneren Bildern? War das Trance oder Hypnose? Eine Veränderung von mentalen Konzepten? Von allem etwas. Wobei diese theoretischen Überlegungen zunächst unerheblich sind. Das maßgebliche Kriterium ist: Hat diese Art von innerer Arbeit eine gute Wirkung auf Herrn Burger? Verändert sich dadurch etwas dauerhaft?
Auch in den nächsten Sitzungen ist diese innere Ruhe nicht ganz von ihm gewichen. Seine Rastlosigkeit lässt nach. Er kann wieder besser schlafen. „Vorm Einschlafen stelle ich mir jetzt manchmal das Bild von meiner Schwester vor und wie sie zu mir schaut. Dann schlafe ich gut ein.“ In der Arbeit findet er seine alte Leistungsfähigkeit wieder. Gleichzeitig bemüht er sich um einen geregelteren Arbeitstag, sodass er auch einmal wie alle anderen Feierabend machen kann.
In einer Familie ist es ein großer Schock, wenn jemand früh stirbt. Ein solcher Tod konfrontiert mit der Unberechenbarkeit des Lebens und mit der eigenen Sterblichkeit. Eine normale, menschlich allzu verständliche Reaktion ist es, sich ein Stück weit davor zu verschließen. Etwas bleibt unverarbeitet zurück und damit wird jemand enger und angespannter.

Eine innere Begegnung mit den Verstorbenen, bei der sie Gestalt gewinnen und wieder wie lebendig werden, ist heilsam. Alte Bilder, die bisher unverändert in den Köpfen waren, können sich so verändern. Verstorbene bekommen dadurch einen guten Platz im eigenen Leben und in der Familie insgesamt. Sie zählen und gehören mit dazu. Das befriedet und entspannt.

Auszug aus dem Buch „Der Apfelfaktor“ - Wie die Familie, aus der wir kommen, beruflichen Erfolg beeinflusst von Bertold Ulsamer –