Von Peter Seifert 29.06.2024 um 17:38 Uhr | melden
Meine Erfahrung mit Paul Wittelmann steht im Spannungsfeld zweier Aussagen über ihn. Chiara Lubich, die charismatische Gründerin der Fokolar-Bewegung, hat ihn anscheinend schon in seiner Anfangszeit als Fokolar einen Heiligen genannt. Arnaldo Diana, der zu der Gruppe der italienischen Fokolare gehörte, die diese Bewegung in der Bundesrepublik aufbauten, kommentierte Chiaras Aussage nüchtern, er würde Paul trotzdem nie die Verantwortung für eine Fokolar-Gemeinschaft überlassen.
Richard Wagner hat das Wort „Parsival“ mit „reiner Tor“ übersetzt. Beides gehörte zu Paul: die Reinheit, aber auch eine gewisse Torheit. „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8) Paul war so einer, ein Reiner, der Gott schaute. Er erzählte mir einmal von einer mystischen Erfahrung mit dem Hohenlied, die er in den Dolomiten gemacht hatte. Wichtiger war für ihn, in den Menschen Gott zu schauen. Normalerweise sieht man in den Menschen Anziehendes, Abstoßendes, Gleichgültiges, aber nicht Gott.
Meine erste Begegnung mit Paul war als 8-jähriger bei der Mariapoli in Wattens/Tirol 1963, aber richtig kennengelernt haben wir uns 1974 im Fokolar Köln. Ich war gerade mit dem Gymnasium in Münster fertig geworden (zufällig das Gymnasium Paulinum, das auch Paul besucht hatte). Der Plan war, dass ich für den Zivildienst in Köln eine Stelle suchen sollte, damit wir für die Gen-Bewegung in der Region ein kleines Zentrum bilden könnten. Nur war ich neunzehn und schon damals unpraktisch und verträumt, so dass ich erst einmal etwas unorthodox für einige Monate im Fokolar mitlebte. Paul war vor kurzem aus Ottmaring gekommen und sollte eine Arbeit finden. Er war fünfunddreißig, hatte ein Theologiestudium und sich in Augsburg EDV-Kenntnisse angeeignet.
Für sein Kommen nach Köln gab es keinen äußeren Grund, sondern man hoffte, dass eine Großstadtumgebung seiner Tendenz zur Naivität, von mir etwas ungenau „Torheit“ genannt, wirksamer entgegenwirken könnte als das in der „heilen Welt“ von Ottmaring möglich gewesen wäre. Er erklärte mir das mit großer Einfachheit, sogar Dankbarkeit, weil man sich um seine persönliche Entwicklung sorgte. Wenn er sich durch diese erzieherische Maßnahme gedemütigt gefühlt haben sollte, hat er das zumindest nicht zu erkennen gegeben.
Die Arbeitssuche gestaltete sich alles andere als einfach. Dabei lernte ich eine Eigenschaft von Paul kennen, die immer charakteristisch für ihn bleiben sollte, die „Unkleinkriegbarkeit“, um eine der legendären Wortschöpfungen von Carlantonio Tommasin alias Sapi zu gebrauchen. Das war nicht einfach nur westfälische Hartnäckigkeit, sondern ihr Geheimnis war die Liebe zu Jesus in seiner Verlassenheit.
Die erwähnte Naivität darf nicht als Mangel an Intelligenz mißverstanden werden. Aus der Zeit in der wir oft allein zusammen im Fokolar waren erinnere ich mich an viele Einsichten, die ich aus unseren Gesprächen gewann und die bis heute für mich ihre Gültigkeit behalten haben.
Aus dieser Zeit erinnere ich ein filmisches Bild, bei dem die Reinheit und die Naivität sich durchdringen. Es war ein Wochenendtreffen von Jugendlichen im Fokolar mit ziemlich viel Leben in der Bude. Langsam öffnet sich die Tür (zur Küche? zum Wohnzimmer?) und mit freudig leuchtenden Augen tritt Paul ein: leicht geduckt wie eine sich anschleichende Raubkatze. Ich deute mir dieses Erinnerungsbild so, dass er mit dem vollen Bewusstsein eintrat, hier Gott zu begegnen. An glücklichen Tagen wird das auch manch anderem so gehen, nur würde der das vielleicht nicht so demonstrativ zeigen. Damals war der scherzhafte Ausdruck „Apostolatslöwe“ in unseren Kreisen en vogue. Für mich ist diese Erinnerung eine Illustration dieser Formulierung, wie sie treffender kaum sein könnte.
Aus seiner Zeit in Ottmaring mit Aldo Stedile, dem Fokolar gewordenen Künstler, brachte er eine unauffällige Qualität mit, die ich jedoch sehr bewunderte. Das war die Art den Tisch zu decken bei den verschiedenen Mahlzeiten. Nichts besonders Schematisches, oder gar Galamäßiges, sondern einfach, aber mit einem Auge auf Harmonie. Ich wünschte, ich würde mich mehr daran erinnern. Chiara hat behauptet, dass im Leben von Menschen, die nach dem Willen Gottes zu leben suchen, mit der Zeit eine Note der Feierlichkeit, Festlichkeit Einzug hält.
Sehr spontane Westfalen sind fast so selten wie weiße Rappen. Paul war sehr spontan. Das konnte ihn manchmal zum Predigen verleiten. Ich erinnere mich an ein Fußballturnier, bei dem fast alle im Fokolar vor dem Bildschirm mitfieberten, er aber, Eiferer vor dem Herrn, zu Umkehr und Buße aufrief. Es ist wohl wahr, dass in unseren nachchristlichen Ländern der Fußball zu einer der großen Ersatzreligionen geworden ist und sich das damals schon deutlich abzeichnete, nur kann man nicht dagegen anpredigen.
Spontan konnte er sich in Fragen des Takts verstolpern. So musste er aus diesem und anderen Gründen Rückschläge wegstecken. Aber da war seine erwähnte „Unkleinkriegbarkeit“, und die machte es ihm möglich, wie jetzt deutlich wurde eine unerhörte Fülle an Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.
Schon in der Zeit in Ottmaring hatte sich unter mir nicht (mehr) bekannten Umständen eine Beziehung zu der Sängerin Inge Brück ergeben. Sie hatte gerade ihren Weg zu Jesus Christus gefunden. Bekanntlich kann die Welt des Showgeschäfts ein schwieriges, um nicht zu sagen: schmieriges Milieu sein. Man versteht, dass da so jemand wie Paul ein besonderer Lichtblick war.
Es mag kein Zufall sein, dass so manche, die ihn - wie ich - schon in Kindesalter kennengelernt haben, den Weg in die Berufung des Fokolars fanden.
Meine Darstellung ist nun eine Aufnahme tief aus dem letzten Jahrhundert, und es spricht einiges dafür, dass in der Zwischenzeit nicht alles beim Alten blieb. So hörte ich im Vorfeld der Beerdigung etwas erstaunt, Du seiest „ja kein so frommer Typ“ gewesen. Der engbefreundete Italiener von Deiner Lieblingstrattoria nannte Dich einen „birbante“, einen, der es faustdick hinter den Ohren hat. Das sagt man nicht von einem Naivling.
Das letzte Mal hast Du mich genau vor einem Jahr an unserem gemeinsamen Namenstagsfest angerufen. Jetzt müssen wir für Anrufe einen anderen Dreh finden: Á la prochaine!