Mit einem Geschenk hinterlassen Sie Ihr persönliches Zeichen in Gedenken an Markus Weber. Veredeln Sie jetzt für 2,99 Euro diese Gedenkseite durch ein Geschenk in Ihrem Namen.
Gedenkseite für Markus Weber
"Nach kurzer schwerer Krankheit": Das war in diesem Fall eine akute Lungenentzündung, die Markus ereilt hatte. Er schaffte es nicht, sie allein zu überwinden, wurde in ein künstliches Koma versetzt. Zusammen mit seinen chronischen Erkrankungen führte sie dazu, dass er den Kampf nach einer Woche verlor.
Markus war ein feiner Mensch. Sein Leben begann in der kleinen Stadt Bad Laasphe, vierzig Kilometer von Marburg entfernt. Nach einem mit sehr guten Noten abgeschlossenen Abitur folgten die Ausbildung zum Bankkaufmann und ein mit sehr guten Noten abgeschlossenes Studium. Dieser geistigen Exzellenz standen immer schwere gesundheitliche Probleme gegenüber. Markus musste sich seine Erfolge mehr als andere körperlich erkämpfen, weil er unter einer Autoimmunerkrankung litt. Diese trat erstmals ein halbes Jahr vor dem Abitur zutage. Er musste alle Prüfungen nachholen. Gleiches ereignete sich während der Diplomarbeitsphase: Er erkrankte während des ersten Prüfungsversuchs schwer, musste ihn abbrechen. Beide Male schaffte Markus die Wiederholungsprüfung mit Bestnote.
Trotz dieser massiven gesundheitlichen Probleme führte der Lebensweg Markus zunächst weit aus dem heimischen Bad Laasphe heraus. Teile seiner Ausbildung absolvierte er in München. Nach der Banklehre blieb er nicht auf diesem Weg. Er nahm ein Studium auf - nicht der Betriebswirtschaft, sondern der weit gesellschaftskritischeren Soziologie. Er begeisterte sich für empirische Gesellschaftsforschung, wie sie am Lehrstuhl von Hartmut Lüdtke betrieben wurde, wurde schließlich studentische Hilfskraft am von Leo Kißler bekleideten Lehrstuhl für Politische Soziologie. Im Kosmos der Marburger Soziologie lernte Markus die unterschiedlichen Forschungsprogramme und Denkstile der Gesellschaftswissenschaften kennen. Dabei entwickelten sich die Themen der Konsumkritik und den Verlockungen der Selbstoptimierungen zu lebenslangen Interessen von Markus. Das war sein Spagat: Einerseits war er ein Mensch, der diese Gesellschaft und den Staat verteidigte und unterstützte. Und andererseits war er ein Mensch, der immer aufs Neue die Gesellschaft hinterfragte und ihre Entwicklungen kritisierte. Markus war in dieser Hinsicht weder radikal noch angepasst. Er betrachtete beide Seiten der großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, solidarisierte sich nicht mit einer Seite, sondern erwartete von allen Protagonist*innen zivilisierte Konfliktaustragung. So wie er das konservative Totschweigen von Herrschaftsverhältnissen nicht akzeptierte, so stellte er sich auch gegen Klimaschützer, die sich festklebten oder an Bäumen festbanden. Sowohl die Unterdrückung der Meinungsäußerung als auch krakeelende Protestierer lehnte er ab. Er mahnte stattdessen das Abwägen zwischen verschiedenen Interessen an und versuchte diese kantische Haltung seinen Studierenden zu vermitteln.
Dieser Gesellschaftsanalytiker Markus Weber war, und da zeigte sich seine Doppelwertigkeit, Mitglied der SPD. Er engagierte sich lokal, er zog sich nicht aus der Öffentlichkeit in den Elfenbeinturm der Universität zurück, wie es so viele Soziolog*innen tun, sondern konnte zwischen seiner eigenen Rolle in der Gesellschaft und seiner Rolle als Gesellschaftsforscher differenzieren. Gab es eine Landtagswahl, sprachen wir am Telefon über die Auswirkungen auf die Bundespolitik. Wir sprachen darüber, welches die wahrscheinlichen Regierungskonstellationen wären und wie dieses Ergebnis durch vorhergehende Politik zustande gekommen war. Markus hatte seine Sympathien, er konnte jedoch in der Analyse völlig unabhängig davon sein - eine Qualität, die einen guten Soziologen ausmacht.
Ich lernte Markus kennen, als er in die großen Fußstapfen von Herbert Claas stieg. Markus hatte kurz vor mir das Studium der Soziologie absolviert. Er hatte nicht den Weg zurück in die Bank eingeschlagen, sondern ließ sich auf das Abenteuer der Soziologie als Beruf ein. Die Situation, der er sich stellen musste, hätte kaum anspruchsvoller sein können: Mehr als zwei Jahrzehnte hatte Claas die Gestaltung des Studienganges Soziologie organisiert. In der größten Bildungsreform des Bologna-Prozesses - die Einführung der konsekutiven Bachelor- und Masterstudiengänge - stieg Claas in die Position eines Vizepräsidenten der Philipps-Uni Marburg auf. Zunächst vorübergehend, schließlich dauerhaft, übernahm Markus dessen Arbeit als Studiengangskoordinator im Institut für Soziologie. Er musste dort die Auswirkungen der Bildungsreform umsetzen. Die Zahl neu eingeschriebener Studierender verdoppelte sich schlagartig, neue Bewältigungsstrategien und Prüfungsformen mussten her. Obwohl die Ressourcen des Instituts kaum merklich erhöht worden waren, zeigte sich, dass Markus dieser großen Aufgabe gewachsen war. Er erkannte die Notwendigkeit der Veränderung, er sah, dass die neue Herausforderung kaum mit den bestehenden Abläufen zu bewältigen war. Und er reagierte: Die Veranstaltung zur Einführung ins Wissenschaftliche Arbeiten wurde von ihm zu einem großen Seminarapparat umgebaut. Er erhöhte seine Präsenz in der bis dato rein studentisch organisierten Orientierungseinheit, organisierte sie schließlich selbst. Er beschaffte studentische Hilfskräfte, verteilte die Aufgaben neu und ermöglichte so den knapp zweihundert Studienbeginner*innen eine sinnvolle Betreuung ab dem ersten Semester.
Die Organisation des Lehrbetriebes nach dem rauen Auftakt und die Gestaltung von studierenswerten Modulen gingen Markus zunehmend leichter von der Hand. Er hatte fast künstlerische Fähigkeiten, wenn es darum ging, Studienordnungen weiterzuentwickeln, Engpässe vorab zu erkennen und rechtzeitig vorzuplanen. Mit der Routine eines erfahrenen Schachspielers sah er mehrere Züge voraus, plante vorab und war so selten in der Verlegenheit, reagieren zu müssen. Er hatte immer schon vorausgedacht.
Dass dies in Wirklichkeit harte Arbeit war, sah man als Außenstehender nur an Indizien: So hatte Markus das anfängliche Vorhaben, eine Doktorarbeit zu schreiben, erst nach hinten geschoben, schließlich ganz aufgegeben. Abends im Hotel, wenn ich den Tag schon beschließen wollte, öffnete Markus noch mal das Mailprogramm, um eilige Vorgänge zu bearbeiten. In dieser Hinsicht war er pflichtbewusst bis zum letzten, akkurat, zu hundert Prozent zuverlässig.
Es waren unter anderem diese Eigenschaften, die ihn allseits beliebt machten. Bei den Marburger Professor*innen für Gesellschaftswissenschaften - wahrlich kein einfaches Publikum - erfuhr Markus ungeteilte Anerkennung und Wertschätzung. Das konnten Vertreter*innen jedweder politischen Couleur sein, es konnten auch Forschende sein, deren inhaltliche Positionen er nicht teilte. Dennoch gelang es ihm, mit allen im Dialog zu bleiben, das Einende zu betonen und dadurch Gräben zu überwinden.
Wenn man als Vertrauter sich mit ihm unterhielt, stöhnte er ob der Energie, die ihn dies kostete, aber nach Außen ließ er sich nicht anmerken, welches Maß an Selbstbeherrschung und Diplomatie er für die tägliche Arbeit aufwenden musste.
Diplomatie: Das ist es, worin Markus und ich uns unterschieden. Ich als Fachschafter, immer im Kampf gegen Ungerechtigkeit und damit öfter aneckend. Und Markus, der als Koordinator der Studiengänge die Interessen der Hochschule vertreten sollte. Ich kann ihm nicht hoch genug anrechnen, dass er mir ohne Vorurteile begegnete, mir, dem Jüngeren und Rangniederen, die Freundschaft anbot und mich als soziologischen Diskussionspartner akzeptierte. Markus konnte diplomatisch sein - über den Punkt der Sprachlosigkeit hinaus. Ich erinnere mich an eine gemeinsame Zugfahrt im TGV. Wir hatten vergessen, unsere Namen auf unsere Tickets zu schreiben, ein klarer Regelverstoß. Der wütende Schaffner forderte 300 Euro. Und obwohl der Schaffner kein Wort Deutsch sprach und Markus kein Französisch, gelang es ihm, uns herauszureden. Während ich schon die Kreditkarte gezückt hatte, machte Markus mit Händen und Füßen klar, dass wir zwei unwissende Deutsche seien, die sich mit den Feinheiten des französischen Bahnsystems nicht auskennen würden. So durften wir unter strengstem Blick unsere Namen nachtragen und unsere Fahrt nach Marseille fortsetzen.
Diskutiert haben wir viel und wenn ich das richtig von seinen sonstigen Freunden gehört habe, dann hat er auch mit ihnen lange Debatten gehabt. Immer freundschaftlich, immer wertschätzend, aber zugleich am Puls der Zeit. Wenn in den französischen Banlieues Jugendliche auf die Straße gingen, war dies ein Thema, das Markus bewegte. Die "Klimakleber" und der "Risikodiskurs COVID-19" waren Titel seiner Seminare. "Stereotypen Framing in der Berichterstattung" ein weiteres Seminar, das er an der Uni gab. Markus kannte die Klassiker zum Strukturwandel der Öffentlichkeit, zur Kulturindustrie, Luhmanns Theorie der Komplexitätszunahme, Becks Risikogesellschaft. All das wurde aber von ihm nicht als abschließendes Urteil über die Moderne akzeptiert, sondern als Grundlage für eine differenzierte Gesellschaftsbetrachtung. Die Betreuung der Studierenden übernahm er leidenschaftlich. Markus merkte, wer nur zum "Schein-Machen" bei ihm saß und wen Themen wirklich interessierten. Wer ihm wirkliches Interesse entgegenbrachte, wurde von ihm unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft ernst genommen. Dies setzte er ebenso in der Studienberatung um: Wo nötig, vermittelte er sachlich Informationen, half Menschen pragmatisch weiter. Zugleich aber hatte er feine Antennen für zugrundeliegende Probleme. Er besaß die Fähigkeit zu erkennen, wenn Studienprobleme in Wirklichkeit private Ursachen hatten. Dann konnte eine Studienberatung lange dauern. Markus nahm diese Sorgen ernst und arbeitete daran, individuelle Lösungen für die Lebenssituationen zu finden. So hatte er auch eine große Sammlung erfolgreicher Studienabbrecher angelegt, die von Bill Gates bis Günther Jauch reichte. Falls jemand zweifelnd bei ihm saß, konnte er an diesen Beispielen aufführen, warum ein Studienabbruch nicht das Ende des Berufsweges bedeute. Er gehörte zu den Studienberatern, die ergebnisoffene Beratungen durchführen, die kooperativ Lösungen erarbeiten, die außerhalb des regulären Rahmens liegen. Und er vermittelte dies in seiner wertschätzenden menschenfreundlichen Art.
Das zweite Thema, über das man mit Markus leidenschaftlich reden konnte, war Fußball. Markus war in drei Tipp-Runden aktiv. Darunter das legendäre Managerspiel, das inzwischen 18 oder 19 Jahre alt ist. Markus war Administrator und Angelpunkt dieser Runde, die sich aus ganz unterschiedlichen Menschen zusammensetzt. Meistens waren unsere Wettbewerbe eng, häufig war Markus vorne dabei. Er wusste, welche Spielsysteme sämtliche Bundesligisten festlegten, verfolgte die Formkurven der Mittelstürmer und erkannte die Rohdiamanten der Kader. So war er häufig überlegen, dabei stets ein Lehrmeister für die Kunst der Menschenbeobachtung. Die Bundesligisten wurden zu einem seiner soziologischen Labore. Wenn wir am Montag über den abgelaufenen Spieltag sprachen, hatte Markus häufig schon eine detaillierte Analyse parat, warum gerade Hoffenheim in der Krise sei oder weshalb Union Berlin dem großen Hauptstadtverein den Rang ablief. Das Spannungsfeld zwischen Spielern, Trainer, Management und Umfeld war das Feld seiner Analysen, die stets scharfsinnig und oft zutreffend waren.
Fußball war für Markus eng mit dem Caveau am Hirschberg verbunden. Das war sein zweites Wohnzimmer. Die eigene Wohnung war zwar ausreichend groß, aber wenn Markus Fußball sehen wollte, führte ihn der Weg gerne dorthin. Hier war er insbesondere am Wochenende anzutreffen.
Zur großen Fußballleidenschaft gehörte auch der HSV. Das war sein Verein, mit ihm ist er durch sämtliche Abstiegskämpfe und Krisen gegangen. Der HSV hat ihm die Liebe leider nicht mit sportlichen Erfolgen gedankt. Markus war eine treue Seele, er litt mit, freute sich über kleine Erfolge, bejubelte, wenn der Klassenerhalt mal knapp geklappt hatte und verfolgte die Jubiläen. Er trauerte letztes Jahr um "Uns Uwe" und im Januar war er stolz wie Oskar, dass die "11Freunde" eine Titelstory zum 40. Europapokalsieg brachten.
Eine treue Seele blieb Markus auch als Freund. Viele seiner Freunde und Vertrauten sind aus Marburg weggegangen, Markus hielt die Verbindung aufrecht. Markus verließ ebenfalls nie seinen Schachverein in Bad Laasphe. Obwohl er das Schachspiel in den letzten Jahren nicht mehr intensiv trainierte, fuhr er an Sonntagen hunderte Kilometer in kleine Orte, um am hinteren Brett den Kader aufzufüllen. Spielte man Schach mit Markus, sah man vieles von seiner Persönlichkeit: Markus war ein grundsolide ausgebildeter Denker, er war vertraut mit den gängigen Eröffnungsvarianten. Gerne wählte er den Sizilianer, nicht in der offensiven auf Abtausch spekulierenden Variante, sondern in der komplexen, auf Stellungsvorteil bauenden defensiven Variante. In dieser Weise entwickelte er allmählich seine Figuren, nachdenkend und reflektierend. Er setzte auf die Ungeduld des Gegners, der die Schwierigkeit der Figurenverwicklung reduzieren wollte. Und diese Ungeduld versuchte er zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen. Mit klaren, sicheren Zügen schuf er wieder die Vereinfachung des komplexen Netzes zu seinen Gunsten. Nicht anders war seine Soziologie: Ein hohes Verständnis für die Verwicklungen der Gesellschaft, für all die Nebenfolgen, die unser Zusammenleben mitunter schwer machen und doch in letzter Konsequenz klar, nüchtern und reflektiert.
Spätestens seit seinem 19. Lebensjahr reflektierte Markus über die eigene Sterblichkeit. Er machte solche Dinge im Allgemeinen eher mit sich aus. Einmal diskutierten wir über die große klassische Zeit der Soziologie - Simmel, Weber, Durkheim, Elias, Mannheim. Welche Chance, als erster Mensch den Zivilisationsprozess zu beschreiben oder die self-fulfilling prophecy zu entdecken! Markus wurde still und sagte: "Ich bin dankbar, heute zu existieren. Vor hundert Jahren wäre ich nicht mehr am Leben." Dass er schon früh viel mit Ärzten zu tun hatte, beinah ein halbes Jahr in der Charité verbracht hatte, hatte sein Selbstbild geprägt. Die Begeisterung für Urlaube und das Reisen stammte daher. Gerne wanderte er, gerne besuchte er Fußballstadien oder Badeorte. Markus war wahrlich kein trauriger Kranker. Er war dankbar für das Geschenk des Lebens, hatte sich zum Ziel gesetzt, viel von seiner Zeit auf der Erde mitzunehmen.
Noch zwei Wochen vor seinem Tod hatten wir uns über einen möglichen Frühruhestand unterhalten. Es war Markus klar, dass er nicht 75 oder 80 werden würde, aber es war nichts davon zu spüren, dass er nur noch kurze Zeit auf dieser Erde weilen würde. Markus erzählte von seinen Vorstellungen, vielleicht nach Bad Laasphe zurückzugehen. Er hatte, überraschend für mich, eine kleine Wohnung in einem Ort außerhalb von Marburg zum Kauf besichtigt, von dem er in einer halben Stunde hätte reinpendeln können. Seine Überlegungen waren noch sehr diffus - nach knapp zwanzig Jahren Arbeitsleben, seit der Verbeamtung hatte er finanziell keine Sorgen. Ich weiß noch, wie ich ihm zuriet, die Pläne eines Frühruhestandes zu verfolgen: "Was nützt Dir alles Geld der Welt, wenn Du es nicht mehr ausgeben kannst." Markus antwortete pragmatisch: "Dann erben das meine Neffen, das wäre auch schön." Das sagt viel über den Menschen aus.
Adrian Jitschin
Dank an Jens Jetzkowitz, Dirk Kaesler, Johannes Kunkel und Helmut Kuzmics für Lektorat und Anregungen.