Wie konntest du mich bloß verlassen?
Die Trauer um einen geliebten Menschen, den man durch den Tod verloren hat, ist kein gleichbleibender emotionaler Zustand, sondern im Gegenteil eine Achterbahn der unter- schiedlichsten Gefühle. In die Trauer und den Schmerz mischen sich Einsamkeit, Verzweiflung, Melancholie, Hoffnungs- losigkeit, Sehnsucht und Trostlosigkeit, aber auch Aggressionen und Wut brechen sich immer wieder Bahn.
Die Wut kann sich dabei zum einen gegen einen möglichen Verursacher des Todesfalls richten, wie einen Fahrer bei einem tödlichen Autounfall, einen Arzt beim Tod durch Erkrankung, gegen Gott, der dies zugelassen hat, aber auch gegen den verstorbenen Menschen selbst – besonders dann, wenn er durch die eigene Hand gestorben ist.
Wut ist ein wichtiges Ventil
Gegenüber den anderen Emotionen, die man im Lauf der Trauerbewältigung empfindet, ist die Wut ein aktives und aktivierendes Gefühl. Wut will handeln, sie will Rache oder Vergeltung, sie will aus der Opferrolle, in die der Tod den Trauernden getrieben hat, ausbrechen. Insofern ist Wut ein sehr wichtiges und notwendiges Gefühl, hilft sie doch dabei, das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts des Todes zu überwinden.
Und zudem sind Wut und Aggression a priori keine schlechten Gefühle. Sie weisen auf Missstände hin, sie bündeln Energien, sie regen zum Handeln an. In unserer Wut sind wir in gewisser Weise wie kleine Kinder, denn in diesen Zustand hat uns der Todesfall zurück versetzt: Uns wurde etwas Wichtiges genommen, und wir kennen nicht den Grund dafür, wir verstehen es nicht und wir können absolut nichts dagegen tun, wir können uns nicht wehren. Wir sind zum Opfer verdammt, das hinzunehmen hat, was ihm präsentiert wird.
Deshalb ist die Wut auch auf den verstorbenen Menschen eine absolut natürliche und gesunde Reaktion. Negativ wird sie nur dann, wenn aus Wut und Aggression gewalttätige und zerstörerische Handlungen abgeleitet werden. Aber man muss wegen seiner Wut kein schlechtes Gewissen haben, sie unterdrücken oder tabuisieren, denn sie erfüllt eine wichtige Funktion.
Deshalb sind die Phasen der Wut während der Trauerarbeit also sehr wichtige und nützliche Phasen. Sie erlauben dem Überdruck der Emotionen von Schmerz und Trauer, durch das Ventil der Wut etwas von ihrer Intensität zu verlieren, Dampf abzulassen, neue Kräfte zu sammeln.
Besonders schmerzlich: Wut auf einen Selbstmörder
In den verschiedenen Trauerphasen können wir Wut auf einen Menschen verspüren, der an einer Krankheit gestorben ist und doch lieber das Leben vorgezogen hätte. Wir sind einfach wütend darauf, dass dieser Mensch uns so einsam und verloren zurück gelassen hat, dass wir jetzt unser Leben ohne ihn neu gestalten müssen.
Um wie viel stärker kann die Wut aber werden, wenn der verstorbene Mensch von der eigenen Hand gestorben ist! Dieser Freitod wird dann oft als Akt der persönlichen Verletzung gesehen, denn der Tote hätte dies ja verhindern können. Wie selbstsüchtig war er, wie wenig hat er an unsere Bedürfnisse und unseren Schmerz gedacht! Wie konnte er oder sie uns das nur antun!
Und gleichzeitig empfinden wir neben dieser Wut natürlich auch noch Trauer, Schmerz, ein schlechtes Gewissen, und wir martern uns mit Selbstvorwürfen, weil wir einen Teil der Schuld bei uns sehen. Was wieder die Wut steigert, denn wenn der andere sich nicht umgebracht hätte, müssten wir uns nicht schuldig fühlen!
Umgang mit der Wut
Was aber soll man tun, wenn man diese alles verzehrende Wut in sich verspürt? Wie soll man mit ihr umgehen, ohne sie in zerstörerische Handlungen gegen sich oder andere umschlagen zu lassen? Mehrere Schritte helfen dabei, mit seiner Wut konstruktiv umzugehen.
- Akzeptanz
Der erste wichtige Schritt ist es sicherlich, diese Wut zu akzeptieren. Sie wird nicht verdrängt, man schämt sich auch nicht dieses Gefühls, man akzeptiert einfach, dass die Wut da ist. Und man macht sich klar, dass sie nicht nur normal, sondern auch gesund und hilfreich ist. Denn Wut und Aggression übermitteln uns die Botschaft, dass wir etwas tun sollten, damit es uns besser geht. Irgendetwas stimmt nicht, und wir sind gefragt, dem auf die Spur zu kommen und es zu ändern. - Aktiv werden
Da Wut und Aggression zum handeln treiben, sollten wir das auch tun. Allerdings ist uns die einzige Lösung, die wir uns gegen unsere Wut wünschen, leider verwehrt: Wir können den Toten nicht ins Leben zurück rufen. Der Verlust ist unumkehrbar, dieser Weg ist versperrt.
Aber man kann mit seiner Wut durch eine andere Art des Handelns umgehen. Man kann ihr Gehör verschaffen, indem man all das in einem Brief fest hält, was einen bewegt und so wütend macht. So schreibt man an den Verstorbenen, den Arzt, den Unfallverursacher, sich selbst oder auch an Gott und schreit ihnen all die wütenden Vorwürfe entgegen, die in einem selbst toben.
Solch ein Brief (der natürlich auch an die lebenden Zielobjekte nie abgeschickt wird) ist ein Ventil für die Wut und lässt verschiedene Aspekte besser erkennen. Man kann ihn auch damit beschließen, dass man diese Wut ja nur verspürt, weil man den verstorbenen Menschen so schmerzlich vermisst – wäre er einem gleichgültig, so wäre man auch nicht wütend. So ist der nächste Schritt schon vorbereitet.
Eine weitere Möglichkeit, seine Wut zu bewältigen, ist körperliche Aktivität. Wenn wir mit dieser Wut im Bauch ein Kissen zusammen schlagen, auf den Punchingball losdreschen oder von ihr beflügelt als totaler Unkrautvernichter im Garten tätig werden, so verschaffen wir unserer Wut ein körperliches Ventil. Und dadurch beruhigt sich auch das Gemüt, so dass wir wieder etwas gelassener werden können. - Verzeihung
Ein ganz wichtiger Schritt bei der Bewältigung der Wut ist die Verzeihung. Dieser Schritt ist im Einzelfall sicher nicht so leicht und benötigt vielleicht verschiedene Anläufe. Aber er ist essentiell, wenn wir uns mit dem Tod aussöhnen möchten.
Den Weg zur Verzeihung beschreitet man dadurch, dass man sich klar macht, dass der Todesfall kein bewusster Affront gegen einen selbst war. Gott hat uns nicht gezielt durch eine Krankheit bestraft, der Fahrer des Unfallwagens hat nicht absichtlich den Unfall verursacht, auch der Selbstmörder hat sich nicht umgebracht, um uns zu verletzen. Er hatte nur einfach nicht mehr die Kraft, sich dem Leben zu stellen, und das Bewusstsein, was er uns damit antut, hat ihn oder sie womöglich sehr geschmerzt.
Mit dieser Haltung verlässt man den Blickwinkel der egozentrischen Wut (Warum hast du mir das angetan?) und gewinnt eine neue Perspektive. Keiner wollte uns absichtlich verletzen und berauben, niemand hat den Tod herbei geführt, um speziell uns zu schmerzen. Diese neue Perspektive erleichtert es enorm, den heroischen Akt des Verzeihens zu vollziehen.
Sich selbst sollte man dabei nicht vergessen. Besonders bei einem Selbstmord ist es wichtig, sich selbst zu verzeihen. Man mag vielleicht wirklich Fehler gemacht haben, aber das ist nur allzu menschlich – wir haben sie nicht mit Absicht begangen. Wir sind keine Mörder, wir sind einfach nur fehlbare Menschen, die Verzeihung verdienen. Vergeben Sie also auch sich selbst und überlegen Sie stattdessen, was Sie mit Ihrer Erkenntnis für andere Menschen tun können.
Umarmen Sie deshalb Ihre Wut und stehen Sie mutig dazu. Sie will Ihnen helfen, mit dem Verlust fertig zu werden, und Sie liefert Ihnen wichtige Impulse und Energien, wie Sie den Weg zum Leben weiter beschreiten können. Die Wut nimmt Sie immer wieder an die Hand und gibt Ihnen die Kraft, den nächsten Schritt zu gehen. Heißen Sie sie deshalb als wichtige Verbündete willkommen!
Artikel geschrieben von Irene Becker
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