Wie kannst du Papa bloß so schnell vergessen?
Wenn der Vater oder die Mutter sterben, so macht die gesamte Familie eine sehr schwere Zeit durch. Der Verlust benötigt Zeit, damit man ihn verarbeiten kann, die Lücke, die der Mensch gerissen hat, muss erst wieder geschlossen werden. Das Alltagsleben verändert sich gravierend, und eine bestimmte Lebenssituation ist unwiederbringlich verloren; sie kehrt nie wieder.
Trauer läuft nicht immer konform
Zu Beginn, kurz nach dem schrecklichen Ereignis, werden sich alle Familienmitglieder in einem ähnlichen Zustand befinden – der Verlust schmerzt unerträglich, die Sehnsucht nach dem verstorbenen Menschen ist kaum auszuhalten. Im Laufe der Zeit verringert sich dieser akute Schmerz etwas, und die Hinterbliebenen durchlaufen die verschiedenen Phasen der Trauerbewältigung.
Diese Phasen bestehen aus der ersten Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens, in denen man die schreckliche Wahrheit am liebsten ignorieren würde. Wird einem dann klar, dass alles Ignorieren und Leugnen zwecklos ist, folgt eine intensive emotionale Phase, in der viele unterschiedliche Gefühle den Trauernden überfluten. Schmerz und Trauer, Verzweiflung, Einsamkeit, Depression, aber auch Wut und Aggression können sich binnen kurzer Zeit abwechseln. Diese Phase endet mit einer gewissen Akzeptanz der Situation.
Die dritte Phase der Trauerbewältigung besteht noch einmal in einem bewussten Abschied. Man erinnert sich dezidiert an die verstorbene Person, klärt für sich offene Fragen und kommt an einen Punkt, an dem man den verstorbenen Menschen in seiner bisherigen Präsenz loslassen kann. Erst dann kann man sich in der vierten Phase der Neuorientierung widmen, in der man Wege sucht, wie man sein Leben auch ohne den Verstorbenen erfüllend weiter führen kann.
Diese Phasen sind bei jedem Menschen unterschiedlich lang, intensiv und sichtbar. Der eine trauert öffentlich, der andere still für sich und zeigt der Welt eher ein unbeteiligtes Gesicht. Alles ist in Ordnung, jeder muss seinen eigenen Prozess durchlaufen.
In der Familie kann eine Auseinanderlaufen der Trauerphasen bei den einzelnen Familienmitgliedern jedoch schnell auch zu Konflikten führe. Dem einen ist immer noch ständig nach Weinen zumute, der andere kann schon wieder lachen und geht auf Partys. Wenn hier die Familienmitglieder nicht mit viel Verständnis miteinander umgehen, so entstehen schnell Missverständnisse, die in Konflikte münden können.
Wut der Kinder auf einen neuen Partner
Ganz besonders schwierig kann es werden, wenn der hinterbliebene Elternteil einen neuen Partner gefunden hat. Unabhängig davon, ob die Kinder den neuen Partner eigentlich ganz sympathisch finden, sind sie ihm oder ihr doch häufig sehr aggressiv gegenüber eingestellt. Sie halten die Stelle von Mutter oder Vater in ihrem Herzen immer noch mit der verstorbenen Person besetzt und sehen den neuen Partner als Usurpator, der diesen Platz besetzen möchte.
Zudem verübeln es die Kinder dem lebenden Elternteil, dass er oder sie nach in ihren Augen womöglich sehr kurzer Zeit die verstorbene Person schon vergessen hat und sie durch einen neuen Partner ersetzt. Kinder können den Verlust von Mutter oder Vater jahrelang sehr intensiv spüren, so dass sie nicht verstehen können, dass es dem Elternteil nicht genau so geht. Deshalb reagieren sie mit Wut, Aggression und Ablehnung, wenn sich Vater oder Mutter wieder neu binden wollen.
Für Trauer gibt es aber keine Standardwerte. In den Augen eines Außenstehenden mag es sonderbar erscheinen, wenn ein verwitweter Mensch schon nach einem Jahr eine neue Bindung eingeht, aber das muss nicht bedeuten, dass die Trauer um den verlorenen Partner nicht echt und intensiv gewesen ist und bleibt. Jeder Mensch geht mit Trauer eben individuell um, und der eine braucht ein Jahr, der andere zehn, bis er sich auf etwas Neues einlassen kann.
Zudem sind auch die Bedürfnisse der akuten Situation von Bedeutung – der eine benötigt dringend die Zweisamkeit, um mit dem Leben gut fertig zu werden, der andere kann auch jahrelang als Single gut mit seiner Einsamkeit umgehen.
Verständnis und Behutsamkeit sind unabdingbar
Gerade Kinder und Jugendliche sind oft so in ihrer Trauer befangen, dass man von ihnen kein automatisches Verständnis für die Gefühlslage von Mutter oder Vater erwarten kann. Ihnen muss man als Erwachsener mit viel Verständnis begegnen und akzeptieren, dass sie einen anderen Rhythmus haben und vielleicht noch mehr Zeit benötigen.
Vor allem sollte man versuchen, ihnen klar zu machen, dass der neue Partner nie den Platz der verstorbenen Person einnehmen wird, sondern einen neuen Platz bekommt. Die Kinder sollten spüren können, dass der Verlust auch für Mama oder Papa groß war und ist, und dass nicht von ihnen verlangt wird, den verstorbenen Elternteil zu vergessen und zu ersetzen.
Daher sollte man es auch ihnen überlassen, wie sie den neuen Partner ansprechen möchten. Sehr kleine Kinder wählen vielleicht selbst recht schnell die Anrede Papa oder Mama, größere Kinder oder Jugendliche vielleicht nie. Diese Entscheidungsfreiheit sollte man ihnen aber unbedingt einräumen, damit sich nicht ihr Verdacht erhärtet, man wolle den verstorbenen Menschen einfach beiseite schieben und sein Andenken vernichten.
Es ist zur Förderung der Akzeptanz sicher auch ganz wichtig, die bisher gefeierten Gedenktage auch weiterhin zu begehen. Der Besuch am Grab, das spezielle Essen am Geburtstag, alles, was sich an liebevollen Ritualen entwickelt hat, sollte auch beim Vorhandensein eines neuen Partners weiter geführt werden. Auch hier sollte man es den Kindern überlassen, ob der neue Partner daran teilnehmen darf oder sie den Tag lieber nur mit dem einen Elternteil begehen möchten.
Einen geliebten Menschen vergisst man nie, und Kinder müssen spüren können, dass dies auch dann nicht der Fall ist, wenn sich Mama oder Papa neu verlieben und eine Beziehung eingehen. Daher sollte man ihre Wut und ihre Angst verstehen und sie auf den kleinen Schritten zur Akzeptanz ohne Drängen liebevoll begleiten. In ihren Augen haben sie vielleicht mehr verloren, als der lebende Elternteil – Mutter oder Vater hat man nur einen, einen Partner kann man offensichtlich mehrmals finden.
Artikel geschrieben von Irene Becker
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