Wenn Oma stirbt
Die heutigen modernen Zeiten unterscheiden sich nicht nur bezüglich der technischen Fortschritte, die mittlerweile das Alltagsleben ganz anders gestalten. In gewisser Weise hat es im Vergleich zu früher vielleicht auch Rückschritte gegeben – die Ausklammerung der Themen Tod und Sterben könnte ein solcher Rückschritt sein. Starben früher Familienmitglieder im Kreise ihrer Familie, so dass auch Kinder mit dem Prozess des Werdens und Vergehens vertraut werden konnten, so wird das Thema heutzutage oft stark tabuisiert, und die Kinder werden weitestgehend davon ausgeklammert.
Die Absicht mag die gute sein, seinen Kindern möglichst viel Leid zu ersparen. Aber tut man ihnen wirklich einen Gefallen damit, dass man sie von den Realitäten des Lebens abschottet? Viele Psychologen sind da der gegenteiligen Meinung. Je eher die Kinder auf die ihnen angemessene Weise lernen, dass es Tod und Trauer gibt, desto gesünder werden sie auch in Zukunft damit umgehen können, so die allgemeine Auffassung der Experten. Daher sollten selbst kleine Kinder schon in den Prozess einbezogen werden – natürlich mit der notwendigen Unterstützung.
Vorbereitung auf den nahenden Tod
Wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt ist und es absehbar, ist, dass dessen Ableben kurz bevor steht, so sollte man mit seinen Kinder ruhig offen darüber sprechen, besagt die Empfehlung der Experten. Die Kinder können sich so an den Gedanken des Vergehens und des Verlustes gewöhnen und zudem noch ihre eigenen Abschiedsrituale entwickeln.
Wichtig dabei ist, dass man ihnen neue und ungewohnte Phänomene konkret und kindgerecht erklärt. Liegt der Opa im Krankenhaus, ist er an Maschinen und Schläuche angeschlossen und leidet offensichtlich Schmerzen, so ist es wichtig, dem Kind zu erklären, was es damit auf sich hat. Es muss verstehen, dass dies alles notwendige Maßnahmen zu Opas Bestem sind, und dass er nicht von bösen Menschen absichtlich gequält wird, die ihm seine Schmerzen nehmen könnten, es aber nicht tun, da sie schreckliche Monster sind.
Diese Erklärungen sind wichtig, um die blühende Fantasie von Kindern im Zaum zu halten und vorzubeugen, dass sie keine unrealistischen Horrorvorstellungen über Krankenhäuser, den Tod und das Sterben entwickeln. Und sie lernen so zu verstehen, dass es im Leben auch einmal schwierige Phasen geben kann, die man als Familie jedoch gemeinsam bewältigen kann.
Daher kann man auch kleineren Kindern mit der entsprechenden Unterstützung durchaus zumuten, den Opa im Krankenhaus zu besuchen, auch wenn er viel faltiger und schwächer aussieht als am letzten Weihnachtsfest und so eine komische Gesichtsfarbe hat. Man muss es ihnen nur ausreichend erklären, damit sie es in ihr Weltbild integrieren und ein Verständnis für diese neue Situation entwickeln können.
Kinder sind zudem begeistert, wenn man sie auffordert, für den armen kranken Opa etwas Schönes zu Basteln, zu Malen oder zu Schreiben – sie stürzen sich normalerweise mit Feuereifer auf diese Liebesdienste. Und nichts ist rührender – und auch für das Kind erfüllender – wenn es dieses Geschenk dem Opa am Krankenbett überreicht und dieser mit schwacher Hand, aber glückseligem Blick dem Enkelchen über die Haare fährt. Lernt es so doch, dass es in der Lage ist, Freude zu bereiten und Trost zu spenden.
Absolute Klarheit und Aufrichtigkeit sind wichtig
Wenn das Familienmitglied gestorben ist, so sollte man den Kindern in altersgerechten Worten absolut reinen Wein einschenken und nicht mit gutgemeinten Metaphern eine Realität verschleiern, der sich die Kinder ja doch einmal stellen müssen. Opa ist nicht nur fest eingeschlafen, für lange Zeit verreist oder macht mal kurz einen Besuch im Himmel beim lieben Gott, sonder er ist tot und wird am realen Leben nicht mehr teilnehmen. Dieses Konzept vom Tod verdeutlicht man Kindern am besten durch ganz konkrete Beispiele, die sie nachvollziehen können.
Haben sie schon einmal ihr Lieblingskaninchen im Garten begraben, so kann der Verweis auf diese Erfahrung ihnen helfen, das Konzept des Todes auch auf den Opa zu übertragen. Auch Hinweise auf ganz spezifische Auswirkungen, die das Ableben auf ihr eigenes Leben haben wird, können hilfreich sein, damit sie die Wirklichkeit des Todes besser verstehen. Opa wird sie nie wieder von der Schule abholen, die Eisenbahn nicht zu Ende bauen und auch an Weihnachten nicht dabei sein. Diese Beispiele – bezogen auf das Erleben des Kindes – können ihm helfen, die Wirklichkeit in seine Welt zu integrieren.
Teilnahme an Aufbahrung und Beerdigung
Viele Eltern scheuen davor zurück, ihre Kinder dem Anblick des toten Familienmitgliedes auszusetzen. Für Kinder ist aber eine konkrete Erfahrung wichtig, damit sie den Tod und ihre Trauer in ihre kindliche Welt integrieren können. Deshalb sollte man sie ruhig behutsam auch mit dem Anblick des toten Opas konfrontieren, damit sie ihre vagen Vorstellungen mit der Realität abgleichen können und ein realistisches Konzept des Todes entwickeln.
Dabei sollte man ihnen allfällige Veränderungen im Erscheinungsbild des Toten natürlich in altersgerechten Worten erklären, damit sie begreifen, dass sie es mit einem vollkommen natürlichen Prozess zu tun haben. Die Leichenflecken, die Totenstarre und die kalten Hände, die Opa jetzt hat, resultieren eben daraus, dass nach dem Tod das warme Blut nicht mehr durch die Adern fließt. Durch solche Erklärungen können die Kinder gut Unterscheidungen entwickeln, was es bedeutet, zu leben oder tot zu sein.
Auch das Ritual der Beisetzung ist für Kinder ein wichtiger Schritt, die Endgültigkeit des Todes begreifen zu lernen. Wenn sie sehen, dass Opa im Sarg wirklich in die Erde gelegt wird, wenn sie selbst ein Schäufelchen Erde ins Grab werfen, so ist es für sie einfacher zu verstehen, dass „nie wieder“ wirklich „nie wieder“ bedeutet und nicht nur ein „jetzt gerade nicht“.
Man kann sie auch später immer wieder auf diese Referenzerfahrung verweisen, denn Kinder vergessen auch gerne schnell. Wenn das Kind daher nach ein paar Wochen anmerkt, es würde gerne den Opa wieder einmal besuchen, kann ihm die Erinnerung an die Beerdigung schnell wieder ins Gedächtnis rufen, dass das ja nicht mehr geht.
Kinder sind oft viel robuster, als die Eltern glauben, und sie benötigen die Gelegenheit, Lernerfahrungen für ihr späteres Leben zu machen. Enthält man ihnen diese vor, wird es umso schwerer für sie, sich zu gesunden und stabilen Erwachsenen zu entwickeln, die auch mit so etwas Schwierigem wie einem Todesfall umgehen können und diese Ereignis bewältigen können.
Irene Becker studierte Romanistik (Französisch, Spanisch) und Wirtschaftwissenschaften an der WWU in Münster, machte eine mehrjährige psychologische Ausbildung in Deutschland, der Schweiz, England und den USA, schreibt Bücher und ist seit 1994 selbstständig im Bereich Beratung, Personalentwicklung, Training und Coaching.
Finden Sie diese Seite hilfreich? Geben auch Sie mit einem Klick auf die Sterne Ihre Bewertung ab. (1 Stern: Wenig hilfreich, 5 Sterne: Sehr hilfreich)