Mein Kind hat sich umgebracht – Schuldiger gesucht!
Es klingelt an der Tür, und zwei Menschen mit ernsten Gesichtern stehen davor und fragen, ob sie herein kommen könnten. Ein ungutes Gefühl stellt sich ein, und dann überbringen die zwei Unglücksboten die schreckliche und unfassbare Nachricht: Das eigene Kind wurde tot aufgefunden und hat sich offensichtlich selbst das Leben genommen.
Noch schlimmer ist es, wenn man selbst sein totes Kind findet – für alle Eltern ist das wohl die grauenvollste Vorstellung, die man sich denken kann. Dass ein Kind vor seinen Eltern stirbt, ist schon grauenvoll genug, aber dass es auch noch von eigener Hand gestorben ist, ist schier unerträglich.
Quälende Schuldgefühle und Selbstvorwürfe
Egal, wie alt das Kind gewesen ist, die meisten Eltern machen sich quälende Vorwürfe, dass sie diesen Suizid nicht verhindert haben. Was haben wir übersehen, was hätten wir tun müssen? Das sind die Fragen, die immer und immer wieder im Kopf kreisen. Kann man vielleicht noch nachvollziehen, dass ein erwachsenes Kind sich beispielsweise aufgrund einer unheilbaren Krankheit das Leben genommen hat, so ist der freiwillige Tod eines Kindes oder Jugendlichen aufgrund von Liebeskummer oder Lebensüberdruss besonders schwer zu verstehen und zu überwinden.
Und vielleicht stellt man sich diese Fragen, ob man nicht etwas hätte merken müssen, ja zu recht. Sehr viele Menschen, die sich umbringen, geben vorher etliche Signale, dass sie verzweifelt sind und sich mit der Absicht tragen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie signalisieren, dass sie Hilfe brauchen, wenn auch oft recht verdeckt. Denn diese Signale sind manchmal sehr subtil, so dass es kein Wunder ist, dass ein psychologischer Laie – wie es die meisten Elternteile sind – sie nicht wahr nimmt oder nicht entschlüsseln kann.
Dazu kommt, dass manche Kinder ihren Eltern ihre Verzweiflung auch verheimlichen. Gerade wenn es zum Beispiel um massive Probleme in der Schule geht, die sich um Ausgrenzung und Mobbing drehen, sind viele Eltern völlig ahnungslos, weil die Kinder zu Hause nichts davon berichten. Die Schuldgefühle der Eltern sind natürlich dennoch da, weil sie glauben, sie hätten trotzdem etwas ahnen müssen und ihrem Kind beistehen sollen.
Diese Schuldgefühle sind sehr schwer zu überwinden, selbst wenn den Eltern klar ist, dass sie den Suizid nicht hätten verhindern können. Das sagt der Kopf, aber der Bauch reagiert anderes.
Wer trägt die Schuld? – Das Bedürfnis nach Vergeltung
Neben den Selbstvorwürfen haben die meisten Eltern auch noch ein verzweifeltes Bedürfnis, einen Schuldigen für den Tod ihres Kindes zu finden. Das kann der Psychologe sein, der vielleicht eine falsche Behandlung vorgenommen hat, so dass das Kind sich in einer depressiven Phase das Leben genommen hat. Das kann das Lehrpersonal sein, das etwas gegen das Mobbing hätte unternehmen müssen. Das kann die Drogenclique sein, die das eigene Kind zum Drogenmissbrauch verführt hat, oder der unsensible junge Mann, der der Tochter das Herz gebrochen hat.
Es ist leichter, einen solchen Schlag zu verkraften, wenn man einen eindeutigen Schuldigen finden kann. Das verringert ein wenig die Last der Selbstvorwürfe, und es verringert auch die Schuld des Kindes, das seinen Eltern dies angetan hat. Wird ein Schuldiger gefunden und bestraft, so bringt das das Kind nicht ins Leben zurück, es bringt den Eltern aber oft eine gewisse Erleichterung, dass der Tod ihres Kindes nicht ungesühnt bleiben wird. Und es vermindert ihre eigene Schuld, die sie empfinden mögen.
Sind die Schuldigen wirklich die Schuldigen?
Doch manchmal ist es nicht so einfach, einer anderen Person die Schuld am Tod des eigenen Kindes zuzuschreiben. Eines steht schließlich fest: Den Entschluss, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, hat das Kind (egal welchen Alters) selbst getroffen. Und bei erwachsenen Kindern muss man davon ausgehen, dass sie diesen Entschluss im Bewusstsein ihrer Verantwortung getroffen haben, es sei denn, sie waren zum Beispiel psychisch krank.
Bei Kindern und Jugendlichen liegt die Sache sicher etwas anders. Bei ihnen kann man nicht unbedingt voraus setzen, dass sie die Tragweite ihres Entschlusses richtig einschätzen konnten. Sie handeln oft spontan in einem Moment größter Verzweiflung – und wenn ihr Versuch des Selbstmordes fehl schlägt, sind sie später oft dankbar dafür.
Trägt also der erwachsene Selbstmörder allein die Schuld? Sind alle anderen dann frei zu sprechen? Das kann man so pauschal sicher nicht sagen. Auch, wenn sich Erwachsene das Leben nehmen, so kann man davon ausgehen, dass das Umfeld oft einen Beitrag geleistet hat – Ausgrenzung und Mobbing können auch erwachsene Menschen in den Freitod treiben, ebenso wie der Verlust eines geliebten Menschen durch Trennung oder Tod. Aber die Auslöser für einen Freitod müssen nicht immer einzelne Personen sein, auch gesellschaftliche Umstände und Verhältnisse tragen das Ihre dazu bei.
Die spektakulären Fälle von Mobbing wie der von Amanda Todd, die in einem Freitod mündeten, können nicht immer einen eindeutigen Schuldigen benennen. Denn nicht alle Jugendlichen, die sich an dem Mobbing beteiligten, sind automatisch herzlose Monster, denen das Wohl ihrer Mitmenschen nicht am Herzen liegt.
Sie sind Jugendliche, die vielleicht oberflächlich sind, aber vielleicht auch aus Angst mit gemacht haben, damit sie nicht das nächste Opfer werden. Deshalb ist wahrscheinlich die Frage angebrachter, was die Gesellschaft tun muss, um den Jugendlichen mehr Mitgefühl und einer größere Sensibilität gegenüber anderen zu vermitteln - -hier versagt offensichtlich ein ganzes System.
Im Fall Amanda Todd gibt es vielleicht wirklich einen Schuldigen, hat doch eine Hackergruppe einen dreißigjährigen Mann ausfindig gemacht, der für die Mobbingkampagne verantwortlich sein soll. Doch mittlerweile scheint fest zu stehen, dass sie damit nur eine neue Mobbingkampagne ausgelöst haben – der namentlich genannte Mann ist wohl unschuldig, erhält aber zuhauf Mordandrohungen und erleidet jetzt das Gleiche, was Amanda Todd hat durch machen müssen. Das Prinzip Auge um Auge erzeugt nur einen neuen Teufelskreis, ändert aber nichts.
Aber wer es auch gewesen sein mag, Amandas Quälgeist hat die Mobbingkampagne allenfalls angestoßen, denn gemobbt wurde das fünfzehnjährige Mädchen von ihren Klassenkameraden und Freunden. Und diese müssen bis an das Ende ihres Lebens mit ihrer Mitschuld leben. Ob sie Schuldige oder Opfer ihres Umfeldes sind, mag man selbst beurteilen.
Handeln statt Schuldzuweisungen
Die Eltern des jungen Mädchens hingegen nehmen ihren Freitod zum Anlass, gegen das Cybermobbing vorzugehen. Sie haben eine Stiftung gegründet, die gegen solche Aktivitäten im Netz vorgehen soll. Informationen, wie sie zu der Schuldfrage stehen, gibt es bisher nicht. Auch andere Eltern von Mobbingopfern sind aktiv geworden, um solche durch Mobbing verursachten Freitode in Zukunft zu verhindern.
Vielleicht sollte man sich daran ein Beispiel nehmen. Sicher ist es richtig, dass tatsächlich einer Schuld überführte Menschen für ihre Taten auch bestraft werden. Aber statt sich nur mit Selbstvorwürfen zu quälen, ist sinnvolles Handeln vielleicht der bessere Schritt. Zumindest kann der schmerzliche Freitod des eigenen Kindes dann dazu beitragen, dass nicht noch mehr Eltern diese schreckliche Erfahrung machen müssen.
Adressen
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Bogenstraße 26, 20144 Hamburg
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E-Mail: e.korgiel@verwaiste-eltern.de
Verwaiste Eltern und Geschwister Bremen e.V.
Münchener Straße 146, 28215 Bremen
Tel. (0421) 207 04 65
E-Mail: info@verwaiste-eltern-bremen.de
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Helmut Sanne
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im Pfarramt
Museumstraße 9, 38226 Salzgitter-Salder
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Tel. (030) 495 57 47
E-Mail: TABEA-eV@t-online.de
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Krisentelefon (05121) 588 28
Trauergesprächskreis für Hinterbliebene nach einem Suizid
Termine über Geschäftsstelle Tel. (05121) 51 62 86
Diakonisches Werk e.V. des Kirchenkreises Burgdorf
Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern
Schillerslager Str. 9, 31303 Burgdorf
Ansprechpartner: Manuela Fenske-Mouanga
Tel. (05136) 89 73 11, Do 16-18 Uhr
Institut für Trauerarbeit e.V.
Bogenstraße 26, 20144 Hamburg
Tel. (040) 36 11 16 83
E-Mail: info@ita-ev.de
Weitere Informationen im Netz:
Artikel geschrieben von Irene Becker
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