Du fehlst mir leider gar nicht
Wenn ein naher Familienangehöriger wie Vater, Mutter, Bruder oder Schwester stirbt, so erwartet die Umwelt wie man selbst, dass die Hinterbliebenen von tiefer Trauer getroffen sind. Und in sehr vielen Fällen ist das auch so. Aber dann gibt es da noch diese Ausnahmen….
Man erfährt von dem Tod des Menschen, man wartet auf die Gefühle der Trauer und des Schmerzes, aber es stellen sich keine ein. Gleichgültigkeit, vielleicht ein vages Bedauern, aber keine echte Trauer. Ist man ein gefühlskaltes Monster, wenn man einen nahestehenden Menschen bei seinem Tod nicht vermisst und nicht betrauern kann?
Verdrängung, Krankheit oder ein Monster?
Viele Menschen, die eine als natürlich erwartete Trauer nicht empfinden, sind selbst sehr über sich erschrocken. Es gibt einfach Konventionen, wann man Trauer zu empfinden hat. Und wenn die eigene Mutter oder der eigene Vater sterben, so ist das sicher so ein Anlass, zu dem jedermann von den Kindern Trauer erwartet. Und wenn diese Kinder die Trauer einfach nicht verspüren, werden sie oft von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie den Verdacht haben, sie seine unnatürliche gefühlskalte Monster.
Diese generelle Erwartung kann aber manchmal an den Tatsachen völlig vorbei gehen. Es ist nun einmal nicht zu leugnen, dass nicht in jeder Familie tiefe Bindungen zwischen den Familienmitgliedern bestehen, zum Teil sind sie sogar von großer Abneigung geprägt. Und wie soll ein Mensch Trauer empfinden, wenn er den Verstorbenen im Grunde genommen nicht leiden konnte, ja vielleicht gar hasste?
Dennoch machen sich viele Menschen, denen es so geht, Vorwürfe. Müsste nicht doch noch ein Rest von angeborener Kindesliebe da sein, der Trauer ermöglicht? Und schon sitzen sie wieder einem Mythos auf, der nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Kinder sind in ihren frühen Lebensjahren von den sie versorgenden Erwachsenen abhängig, aber das bedeutet nicht, dass sie diese Erwachsenen auch automatisch lieben.
Im Gegenteil, sie können schon sehr früh eine Abneigung sogar gegen die eigenen Eltern entwickeln. Und spätestens in der Pubertät kann es dann zu Entfremdungen kommen, deren Gräben nie wieder überwunden werden. Das trifft sogar auf Eltern zu, bei denen die allgemeine Ansicht ja besagt, dass die Liebe zu ihrem Kind auf jeden Fall quasi naturgegeben vorhanden sein muss und sie deshalb ein verstorbenes Kind auf jeden Fall betrauern müssten.
Aber auch Eltern lieben ihre Kinder nicht zwangsweise, sondern können sie ebenfalls unter Umständen nicht leiden. Und wieder stellt sich dann natürlich keine echte Trauer ein, aber ein schlechtes Gewissen, dass man eher erleichtert über den Tod ist, anstatt ihn zu betrauern.
Manche Menschen unterstellen den so gar nicht trauernden Familienangehörigen dann auch schnell, dass sie ihre Trauer einfach nur verdrängen. So ist die Welt wieder in Ordnung, der angeblich gefühlskalte Mensch empfindet tief innen doch eine so starke Trauer, dass er sich ihr nicht stellen kann. Also doch kein Monster!
Natürlich kann manchmal Verdrängung der Grund sein. Aber hier ist einfach Ehrlichkeit gefragt – wenn keine Trauer zu finden ist, dann ist sie eben nicht da. Und das ist kein Verbrechen, sondern einfach eine Tatsache, die sich jeder Beurteilung entziehen sollte. Nur weil man nicht die konventionell erwartete Trauer empfindet, bedeutet das eben nicht, dass man ein gefühlskaltes Monster ist. Menschen entwickeln ihre Gefühle individuell, es gibt keine Automatismen, die immer greifen.
Und deshalb ist man auch nicht zwangsläufig krank, wie es manche Außenstehende vermitteln wollen, damit ihr Weltbild weiter in Ordnung bleibt. Sicher, es gibt Krankheitsbilder, die mit einem Mangel an Gefühlen einher gehen, aber wenn man ansonsten durchaus Gefühle erlebt – nur in diesem speziellen Fall keine Trauergefühle verspürt -, so leidet man wahrscheinlich nicht an einer solchen Krankheit.
Und manchmal spielt die Zeit eine Rolle. Vielleicht hat es aktuelle Verletzungen gegeben, die immer noch schmerzen und der Trauer den Weg versperren. Vielleicht muss man erst einmal vergeben, um dann auch wieder positive Erinnerungen zu lassen zu können, die es früher einmal auch gegeben hat. Vielleicht braucht man einfach ein wenig Zeit.
Heucheln oder Heulen?
Da der Mangel an Gefühlen beim Tod eines nahen Angehörigen die Umwelt meistens sehr verstört, kann man sich diese Frage zu Recht stellen. Die Entscheidung ist aber sicher immer individuell zu treffen. Will man sich befremdliche Reaktionen ersparen und mit seiner Gefühlslage lieber allein und ungestört umgehen, so empfiehlt es sich sicher, sich den konventionellen Erwartungen zu beugen und eine Trauer vor zu spielen, die man nicht verspürt. Inwiefern das mit dem eigenen Gefühl für Ehrlichkeit und Authentizität in Einklang zu bringen ist, muss jeder selber wissen.
Liebe, Hass, Wut, Trauer oder Gleichgültigkeit – alles sind menschliche Gefühle, die sich der Normierung entziehen. Sie sind nicht situationsbezogen angeboren, sie treten nicht automatisch auf. Und deshalb kann man zumindest sich selbst gegenüber ohne ein schlechtes Gewissen ehrlich sein. Wenn man keine Trauer verspürt, so ist auch das im normalen Gefühlsspektrum der Menschen angesiedelt und kein Grund, sich Vorwürfe zu machen oder sich schlecht zu fühlen. Es ist, wie es ist: schlicht menschlich.
Artikel geschrieben von Irene Becker
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