Heinz Barion

Heinz
Barion

07.12.1949
 
-
29.09.2020
Ottmaring

stimmungsbild

Das „Geheimnis der Nähe“ LEBENSBILD - Heinz Barion

VORBEMERKUNG
Zunächst war da für viele der Schock, ein ungläubiges Auf-Horchen, Inne-Halten beim Eintreffen der Nachricht des raschen Todes in der Nacht des 29. Septembers, einer Nachricht, die bei allem Wissen um die seit vielen Jahren prekäre gesundheitliche Situation von Heinz dann doch mit aller Wucht über uns hereinbrach; schließlich eine Benommenheit, der Eindruck, in einen auch lähmenden, surreal anmutenden Albtraum geraten zu sein.
So fragten sich viele von uns: Was weiß ich eigentlich von Heinz Barion, diesem freundlich-leutseligen, zugleich aber immer auch von dem Geheimnis seiner Krankheit gezeichneten Rheinländer, der seit 2009 hier im ÖLZ Ottmaring gelebt hatte und in dieser Zeit doch nie ganz zu fassen war; auch weil er zurückgezogen lebte? Eigentlich wusste man nur von ihm, dass er vorher verschiedene Leitungsfunktionen innerhalb der Fokolar-Bewegung in München, Berlin und Heidelberg bekleidet und als diplomierter Mathematiker eine verheißungsvolle Karriere bei Siemens begonnen und schließlich beendet hatte, um im Spannungsfeld von Berufung und Beruf einer ursprünglichen Lebensentscheidung treu zu bleiben, dem Ruf des Evangeliums.
Es gilt hier und heute, sich neuerlich an Heinz, diese vielschichtige, menschlich ungemein be-gabte – und: andere be-gabende - Persönlichkeit zu erinnern, sie neu gegenwärtig werden zu lassen: in den Worten seiner FreundInnen, Bekannten, Wegbegleiter und – natürlich – in den Selbstzeugnissen seines Lebens.

FESTE FEIERN MIT HEINZ
Beginnen wir mit einem beherzten, an Heinz´ Temperament geschulten „Auftakt“, den ein langjähriger Freund (stellvertretend für uns alle) vorträgt:
Lieber Heinz, entschuldige, dass ich dich während deines persönlichen Festaktes in der himmlischen Herrlichkeit anspreche. Es muss ein rauschendes Fest sein, ich wäre gern dabei! Wir hatten nicht mehr die Möglichkeit des gemeinsamen Abschieds aus diesem zeitlichen Leben, doch steht fest: Ich hatte eine gute Zeit mit Dir!
„Rauschendes Fest“ – dieses Motiv steht für Heinz´ fröhlichen, ja geradezu unverwüstlichen Glauben – und zwar von Anfang an. In einem Brief an Chiara Lubich aus den frühen 70er Jahren beschreibt er seinen ersten Kontakt mit einem lebendigen Glauben als Erfahrung der „Gastfreundschaft“, der er während seiner Zeit bei der Bundeswehr (er war am Fliegerhorst Lechfeld stationiert) in Ottmaring – 1970 - begegnet; dabei erinnert er sich an die Zubereitung eines gemeinsamen Mittagessens mit einem Angehörigen des Fokolars, der Heinz und seinen Freund Dietmar beeindruckt: durch die Offenheit, die Bereitschaft, auf ihre Vorschläge beim Kochen einzugehen, vor allem aber: seine „unerhörte“ Fähigkeit, einfach „zuzuhören“, Raum zu schaffen für sie und ihre Anliegen. In jedem Fall ist es aber ein folgenreiches Mittagessen für Dietmar und Heinz, das sie – am Abend, diesmal in einem nahe gelegenen Biergarten – mit einem Freundschaftsschwur besiegeln: „Lass uns versuchen, wie Christen zu leben: aber glaubwürdig, ursprünglich, im Dienst aneinander!“ – Immer also ist es die erlebte und „zelebrierte“ Gemeinschaft, das Festtägliche, das dann zum Abenteuer des All-Täglichen, den kleinen, konkreten Schritten befähigt.

BESONDERE KENNZEICHEN: VIELE
Daran schließt das weitere Zeugnis eines Freundes an - stellvertretend für viele, deren Entwicklung durch die Begegnung mit Heinz geprägt wurde:
Wenn ich an Heinz denke, denke ich an einen Freund. Als eine Gruppe von Jugendlichen in meiner Heimatstadt Mönchengladbach 1976 mit der Fokolar-Bewegung in Berührung kam und ein erstes Gen-Team zu wachsen begann, begleitete uns Heinz – ein großer, sportlicher junger Mann, der in der Kölner Fokolargemeinschaft lebte und aus Dormagen stammte. Sein Charakter war wie für das Ideal der Einheit geschaffen: lebensfroh, den Menschen zugewandt, herzlich und auffallend durch sein ansteckendes Lachen. Das besonders Faszinierende an ihm war, dass er aus einer tiefen und festen Beziehung zu Gott lebte. Er verkörperte für uns den neuen Stil des Christentums: unklerikal, im täglichen Leben verwurzelt – ein wirklicher Mystiker des Alltags. Er war ein echtes Vorbild für uns 16-18-Jährigen, die hl. Messe, die tägliche Meditation fand ihren Platz in meinem Leben auch durch die Hilfe von Heinz.
Gleichzeitig war er ein echter rheinischer Katholik – die perfekte Synthese von Heiligem und Profanem. Das verstand ich dadurch, dass er mit seiner Mutter, wie auch ich mit meiner Familie als Kind und Jugendlicher – immer wieder mal nach Kevelaer (dem zweitgrößten Marien-Wallfahrtsort in Deutschland) gepilgert war. Nachdem man dort ankam, ging man zuerst in die Kerzenkapelle beten, dann zur hl. Messe und vielleicht zur Beichte und danach pilgerte man ins Café. Das Beten musste ja belohnt werden. Diese optimale Verbindung von Transzendenz und Erdung erlebte ich mit ihm auch in München, wo wir später verschiedene Jahre zusammen im Fokolar lebten.
Heinz erscheint hier als der GEERDETE MYSTIKER, dem nicht nur – von Haus aus - die Verbindung von Konditorei und Kerzenkapelle, sondern auch von Vernunft und Glaube wichtig ist:
Daran erinnert ein anderer Freund der frühen Jahre:
Verstehen und begreifen - Kann auch der Glaube vernünftig sein? Diese Frage hat Heinz nicht "von außen" beantwortet, sondern aus der Beziehung mit Gott heraus. Gott selbst ist logos, also Wort, Vernunft, Sinn. Und gerade dadurch, dass wir dank der Vernunft Dinge erkennen können, haben wir Anteil an Ihm.
Eine Redewendung, die ich bei Heinz immer wieder gehört habe: „Ist mir ein Fehler nachzuweisen?“. Er liebte es, im Streben nach Einheit der Vernunft Raum zu geben und auch Dinge richtig zu stellen. Nicht schulmeisterlich, sondern oft scherzend, deckte er Fehler und Ungenauigkeiten auf.
Als Mathematiker zeichnete ihn eine gewisse Nüchternheit aus. Und wenn wir geistlich abhoben, behielt er Bodenkontakt. Da genügten ein Blick, ein skeptisches Lächeln und Heinz brachte uns wieder in das Hier und Jetzt.
Noch grundsätzlicher fasst eine andere Stimme diese besondere Gabe der „Bodenständigkeit“:
Ich hatte bei Heinz immer den Eindruck, es ging ihm um etwas Grundsätzliches. Vielleicht hat es mit etwas spezifisch Männlichem zu tun … Ich meine die Gabe, die irdischen Gegebenheiten in ihrer Härte und Widerständigkeit jenseits aller Poesie ins Auge zu fassen, sie mit rationalem Augenmaß anzugehen; eine Liebe, die Fleisch wird, wobei diese Fleischwerdung nicht von vorne herein als ein Degenerieren des Spirituellen verdächtigt wird.
Wer sein Leben in diesen Spannungs-Bögen lebt und liebt, muss in gewisser Weise furcht-los, angst-frei, mit besonderem Selbstvertrauen ausgestattet sein:
Einer seiner engsten Freunde merkt dazu an:
Sein Glaube und sein Vertrauen in die persönliche Liebe Gottes und das Wohlwollen der Mitmenschen war unerschütterlich. Selbst wenn er mal riskierte in der Beziehung zu jemanden den Bogen zu überspannen, hatte er keine Angst, dass er dadurch weniger geliebt sein könnte. Auf die Frage, warum er diesbezüglich so angstfrei sei, erklärte er mir, dass bereits in frühester Kindheit besonders die Liebe seiner wesentlich älteren Schwestern dies unumstößlich in ihm grundgelegt hätten.
Heinz´ fröhliche und unerschrockene Zuversicht wies sich – unüberhörbar! – in einem gelegentlich markerschütternden, unwiderstehlichen Lachen, ja buchstäblichen Lach-Salven aus, die bloße Äußerlichkeiten oder krisenhafte Blockaden aufzubrechen, oder: in Grund und Boden“ zu lachen verstanden. Ein gelegentlich geradezu nietzscheanisches, gewaltiges Gelächter, das „ent-dramatisierte“, neue Frei-Räume, Frei-Setzungen ermöglichte – für andere und sich selbst.
Daran, so die kluge Beobachtung eines ihm nahestehenden Menschen, liess sich erkennen: Heinz war jemand, der viel Freiheit brauchte, was er auch wahrgenommen hat; zugleich war er sehr großzügig, auch anderen die Freiheiten zuzugestehen, die für ihre Entfaltung notwendig waren.


ERSTE BEGEGNUNG MIT JESUS DEM VERLASSENEN
Doch was ist das Geheimnis, die verborgene Mitte, die in all diesen Zuschreibungen – Heinz als Bruder, Freund, väterliche Vertrauensperson oder „geerdeter“, mit seiner „Männlichkeit“ versöhnter „Mystiker“ - aufscheint?
In einem seiner ersten, wenn nicht DEM ERSTEN Brief an die Präsidentin und Gründerin der Fokolar-Bewegung ChiaraLubich (datiert vom September 1973) erzählt Heinz von seinen ersten Erfahrungen mit diesem neuen Lebensstil, dem er zuvor in Ottmaring begegnet war; von der Entdeckung Christi im Geheimnis Seiner Gottverlassenheit, dem „verlassenen Jesus“, wie es in der Sprache der Fokolar-Bewegung hießt: als höchster Ausdruck der immer solidarischen Gegenwart dieses Gottes in den Abgründen, Brüchen, Wunden der Menschheitsgeschichte.
Doch die erste nachhaltige Begegnung mit diesem Gott erlebt Heinz auf sehr schmerzliche Weise: Bei einem großen Sommer-Treffen der Fokolar-Bewegung macht er als Moderator keine glückliche Figur auf der Bühne, findet nie das rechte Wort findet und sorgt im dichtbesetzten Saal für unfreiwillige Komik: Dieser „Gesichtsverlust“ lässt ihn ganz konkret jenes „Antlitz des Verlassenen“ entdecken; vom schwärmerischen Überschwang der ersten Monate ist da allerdings nichts mehr geblieben; vielmehr fühlt er sich gedemütigt, will sich in seiner bodenlosen Scham nurmehr irgendwohin verkriechen - und spürt doch zugleich: In jenem Augen-Blick der vermeintlichen „Schmach“ ist er diesem menschgewordenen Gott besonders nah, berühren, durchdringen sich beider Leben. Nach dieser für ihn einschneidenden Erfahrung sagt er zu Vittorio, einem väterlichen Freund: „Jetzt endlich bin ich meinem Gott begegnet!“

DIE „FETTEN“ JAHRE
Dann folgen - biblisch gesprochen – ausgesprochen „fette“, fruchtbare Jahre, die ihn beruflich – als Ingenieur bei Siemens – und in seiner Berufung - als Verantwortlicher verschiedener Fokolar-Gemeinschaften und größerer Gebietseinheiten - quer durch Deutschland führen: München-Berlin-Heidelberg sind einige Stationen. Heinz ist in seinem Element, „Heinz wie er singt und lacht“, kommentiert ein Freund mit sanftem Spott die unbekümmerte Zielstrebigkeit, mit der der eingefleischte Rheinländer die verschiedensten Herausforderung als kraftstrotzender „Gipfelstürmer“ (im übertragenen wie realen Sinn) anging. In diesen Jahren erfährt Heinz vielfache Anerkennung: Bei Siemens schätzte man die hohe analytische, Intelligenz des innovativen, strategischen Vordenkers, den man gerne auch auf transatlantische Projekte der Zusammenarbeit mit und in den USA ansetzt; in der Fokolar-Bewegung geniesst seine welthafte, weltbejahende Frömmigkeit, sein gesunder Menschenverstand, mit denen er religiöse oder schwärmerische Überspanntheiten zu „erden“ weiss, allergrößte Sympathie und Wertschätzung.
Diese Wertschätzung hatte aber auch damit zu tun, dass Heinz vor allem als Freund und Bruder, als Verantwortlicher, der seiner Umgebung auf „Augenhöhe“ zu begegnen wusste, in Erscheinung trat: auch als Ermutiger und (geistlicher) Begleiter vieler Menschen, darunter vieler Kranker und Sterbender, den „Schwachen“, für die er eine besondere „Schwäche“ hatte, zudem war er ein ausgesprochener Freund der Kinder, die ihn zum „freundlichen Riesen“ mutieren ließen; mit ihnen verband Heinz die ungefilterte Freude am Hier-und-Jetzt, an der ausgelassenen, zuweilen risikofreudigen Kreativität des Spielerischen.

ZEITEN-WENDE
Und dann holt sie ihn urplötzlich wieder ein, die Begegnung mit Jesus – im Geheimnis der Gott-Verlassenheit: Im Herbst 2006 wird er ganz unvermittelt aus dieser steilen Kurve eines dynamisch-erfolgreichen Lebens getragen: Heinz erleidet einen Herzinfarkt, man diagnostiziert einen Blutkrebs bei ihm; ferner wird ein Aortenaneurysma entdeckt (eine Erweiterung der Hauptschlagader, die plötzlich reißen kann, woran der Betroffene dann innerlich verblutet.)
Auf diesen wuchtigen Drei-Schlag, der dieses eindrucksvolle Mannsbild unversehens von den Beinen holt, buchstäblich „fällt“, reagiert Heinz in einem vertraulichen Brief an Chiara Lubich (vom 21.9.2006), hier zeigt er seine innere, fast poetisch zu nennende, geistlich hochsensible, verletzliche Seite:
„Jetzt, zwei Wochen nach meinem Infarkt, drängt es mich einfach, Dir an meiner Erfahrung mit Jesus dem Verlassenen Anteil zu geben. Die Nähe und Verbundenheit mit Ihm geben meinem Leben Richtung, denn als ich den Infarkt erlitt, stand mir sofort sein Bild, sein Antlitz vor Augen. Seither spüre ich in mir einen tiefen Frieden und die Gewissheit, dass alles Ausdruck seines Willens, Seiner Liebe ist.“

ANKUNFT IN OTTMARING
2009 kommt er wieder nach Ottmaring, direkt aus Wellington/Neuseeland, seinem insularen Sehnsuchtsort am „anderen Ende der Welt“, wo er 6 wunderbare Monate im Umkreis der dortigen Fokolar-Community verbracht hat, wo er – gerade im Blick auf die kommende Zeit – noch einmal Licht, Farben, Gerüche, grandiose Landschaften, unterschiedlichste Menschen und ihre Geschichten – in sich aufgesogen hat; er kommt zurück nach Deutschland, um sich von nun an seiner prekären gesundheitlichen Situation zu stellen, eine Reise nach innen anzutreten, die ihn – über 11 Jahre - in viele unvorhersehbare, dunkle, wohl auch ängstigende Erfahrungsräume führen wird – und die vor wenigen Tagen ihr Ziel erreicht hat.

HERZ-ZENTRUM
Wenige Wochen nach seiner Ankunft werde ich auf drastische Weise mit der Dramatik seiner Situation konfrontiert: halbnackt, nach der OP und einem 9tägigen künstlichen Koma, gezeichnet von der Erfahrung, erschöpft, aber zugleich fokussiert wie nie zuvor, liegt Heinz auf seinem Bett auf der Intensivstation im Münchener Herzzentrum, mitten im freundlich-geschäftigen Kommen und Gehen der Ärzte und Pflegekräfte, nimmt er mich in den Blick, durchdringend, unverwandt, ja unerbittlich und wiederholt – weit über Zimmerlautstärke - immer nur den einen Satz: „Nur der Verlassene bleibt!“ – „Nur der Verlassene bleibt!“ – „Nur der Verlassene bleibt!“ - Ich habe Heinz nie wieder so – existenziell gezeichnet, innerlich getrieben, dabei zugleich so souverän, mit Vollmacht - sprechen hören, bin nie wieder so von ihm in den Blick genommen worden. Kurz: Mir schien, als sei Heinz gerade in diesem extremen Augenblick der Gestalt Christi, besonders ähnlich geworden.

LEBEN NACH INNEN
In den darauffolgenden Jahren hat Heinz aus diesem Geheimnis seiner Christus-Beziehung gelebt, hat er mit dem Voranschreiten der Krankheit begonnen, sich immer tiefer in diese Wirklichkeit zurück zu ziehen. So sagte er zu mir bei einem Krankenhausaufenthalt im November 2010 (25-11-10) :
„Ich spüre, dass Gott mich aus einem aktiven, selbstbestimmten Leben heraus-genommen und zur Untätigkeit, zur Ohnmacht hier in diesem Krankenzimmer verurteilt hat. Und das auf unbestimmte Zeit. Das ist hart. Zum anderen lebe ich in all den Umständen meines Tagesablaufs – den manchmal unangenehmen therapeutischen Maßnahmen, den Begegnungen mit den Ärzten und dem Pflegepersonal, in der Einsamkeit meines Zimmers – aus dem Bewusstsein, dass es immer Gott ist, der auf mich zukommt, der mir begegnen will. Und das gibt mir immer wieder Zuversicht.“
Die Perspektive seines Lebens war damit einfach auf den Kopf gestellt: Seine immer leidenschaftlich aus-gelebte „Bewegungs-Freiheit“, sein Drang nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sah sich auf die Abmessungen eines vergleichsweise engen Zimmers zurück geworfen, die Perspektive der kommenden Tage, Wochen, Monate, Jahre waren für ihn ein „Reifen zum Ursprung“, zu einer elementaren – geschöpflichen - Einfachheit.


LEBEN LESEN
Drei Tage nach seinem Tod betrete ich erstmalig wieder das Zimmer von Heinz, diesen inneren wie äußeren Rückzugsort von Heinz´ letzten Jahren und Monaten. Dabei fällt mein Blick auf die fast übersehenen Notizbücher, Kalender, Kladden und Kollegblöcke auf der kleinen Kommode. Darin finde ich handschriftliche Aufzeichnungen, Notate, Termine, Stichworte, Aphorismen, präzise Portraits von den Menschen seiner Umgebung, ihren Stärken und Schwächen, geistliche Gedanken zum Tag, to-do-Listen für Arztbesuche und Einkäufe, Redewendungen oder neue Begriffe, die ihn wohl besonders angesprochen, bewegt oder inspiriert hatten; es sind Stenogramme eines im Augenblick gelebten, fragmentarischen Lebens: es sind Protokolle einer Diesseitigkeit, einer Flüchtigkeit, die Heinz leichthändig – gewissermaßen en passant, im Vorübergehen - erfasste: Alles erschien ihm, dem „Weltensammler“ unserer Alltäglichkeiten, von Bedeutung - als vielleicht letzte Gelegenheit, die Welt zu erkennen, der Welt zu begegnen, die Welt zu lieben.
Heinz´ Notizbücher halten „Alltagsepiphanien“ fest, entdecken also im Sammelsurium des Säkularen den „Gott der kleinen Dinge“ (um es mit dem wunderbaren Buchtitel der indischen Autorin Arundhati Roy zu sagen). So kann nur schreiben, wer dabei ist, sich mit seiner eigenen „Vergänglichkeit“ und „Endlichkeit“ zu versöhnen. So kann nur schreiben, wer um die Tatsache weiß, dass das Leben nicht zu verlängern, wohl aber zu verdichten ist.

DAS „INNERE FOKOLAR“
Dieses Zimmer, in das er sich auch im Fokolar zurück zog, war nicht zuletzt der Raum seiner Ängste und Nachtwachen, Momente, von denen wir nicht viel wissen, weil er sie als Teil dieses Geheimnisses betrachtete; zugleich scheint mir, dass dieses Zimmer der innere – geschützte – Schauplatz einer vertrauensvolle Aussprache mit Gott war, mitunter auch eines Ringens mit Gott, das Jesus im Garten Gethsemane durchlebt hat.
Das war sein „inneres Fokolar“, der Zufluchtsort, der dem unmittelbaren Zugriff der anderen Mitbewohner zunächst einmal auch entzogen war, jene – verborgene und zugleich geborgene - Mitte, mit der sich Heinz jedoch nicht etwa aus dem Fokolar verabschiedete, sondern aus der heraus er dieses Fokolar, diese Gemeinschaft mit gestaltete.
Natürlich wäre diese Erfahrung undenkbar gewesen, wenn die Gemeinschaft des Fokolars diesen anderen, besonderen Raum nicht ermöglicht hätte. Das gilt es über diesen Tag, diesen Anlass hinaus im Blick zu behalten: Nur im Maß ihrer Vielfalt und Gebrochenheit kann gemeinschaftliches Leben noch glaubwürdig bezeugt werden. („Im Hause meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“, Joh 14,26)
Folgende Szene aus den letzten Tagen von Heinz mag das verdeutlichen: Heinz kommt in Nicos Zimmer, chronisch müde, erschöpft und lässt sich auf einem Stuhl nieder; nach einigen Augenblicken scheint es so, als sei er eingeschlafen (wie es in den letzten Wochen immer wieder passiert ist). Nico hat seine Arbeit am Schreibtisch beendet, erhebt sich und will das Zimmer verlassen – leise, um Heinz nicht aufzuschrecken. Da ergreift Heinz die Hand des Vorübergehenden und sagt mit kaum hörbarer Stimme: „Bitte, bleibe noch bei mir! Lass mich jetzt nicht allein!“

GEHEIMNIS DER NÄHE
Bei meinem Versuch, Worte für dieses Geheimnis zu finden, in dem Heinz lebte, in dem er sich – und andere- immer mehr zu beheimaten suchte, bin ich auf einen kleinen, ungeheuer intensiven Text von Dietrich Bonhoeffer gestoßen, der dem „Geheimnis der Nähe“ gewidmet ist und der dieses Leben der letzten 11 Jahre im Leben von Heinz und der Gemeinschaft, in der er lebte, präzise beschreibt:
Das Geheimnis bleibt Geheimnis. Es entzieht sich unserem
Zugriff. … Nicht der fernste Stern ist das größte Geheimnis, sondern im
Gegenteil, je näher uns etwas kommt, je besser wir etwas
wissen, desto geheimnisvoller wird es uns. Nicht der fernste
Mensch ist uns das größte Geheimnis, sondern gerade der
Nächste. Und sein Geheimnis wird uns dadurch nicht geringer,
daß wir immer mehr von ihm wissen; sondern in seiner Nähe
wird er uns immer geheimnisvoller. …
Dass der andere mir so nahe ist, das ist das größte Geheimnis.
Gerade über den Tod hinaus teilt sich dieses Geheimnis der Nähe mit, wird es zu einer in ihrem Schweigen beredten Mitteilung – so wie in diesen Worten eines Freundes, der das Unfassliche in poetisch und theologisch dichter Sprache fasst:
Als ich am vergangenen Donnerstag ganz nah an seinem Bett stand, den Leichnam vor mir, da schien es, als sei nur eine unsichtbare Wand zwischen uns, als bräuchte ich ihn nur anzusprechen und er würde sich mir zuwenden. Doch zugleich war diese unsichtbare Wand abgründiges Schweigen, in das hinein Heinz sich entbindet, mir verborgen sich entbirgt - in das Geheimnis Gottes hinein, das ihn entzieht und uns doch zugleich umfängt.
In diesem Geheimnis Gottes aber gründet schließlich das Geheimnis jeder Freundschaft, die diesen Namen verdient. Und in eben diesem Geheimnis, dieser Freundschaft bleibt uns Heinz immer nah.

Ottmaring, 09-10-10 Herbert Lauenroth