Von Andreas Steinhardt 27.10.2024 um 12:42 Uhr | melden
Zur heutigen Gedenkkerze ein schönes Herbstgedicht von Gottfried Keller, mit Anmerkungen zu den Versen.
Nach einem wundervollen, sonnendurchfluteten Samstag mit Temperaturen bis 20°C in hiesigen Breitengraden ist es heute trübe, es gab ein wenig Morgenregen, zögerlich lichten sich gerade die Wolken.
Gerda hätte den gestrigen Tag in vollen Zügen genossen, wohlwissend, das dieser vermutlich
der letzte seiner Art heuer war...
Stiller Augenblick
von Gottfried Keller
Fliehendes Jahr, in duftigen Schleiern
Streifend an abendrötlichen Weihern,
Wallest du deine Bahn;
Siehst mich am kühlen Waldsee stehen,
Wo an herbstlichen Uferhöhen
Zieht entlang ein stummer Schwan.
Still und einsam schwingt er die Flügel,
Tauchet in den Wasserspiegel,
Hebt den Hals empor und lauscht;
Taucht zum andern Male nieder,
Richtet sich auf und lauschet wieder,
Wie’s im flüsternden Schilfe rauscht.
Und in seinem Tun und Lassen
Will’s mich wie ein Traum erfassen,
Als ob’s meine Seele wär’,
Die verwundert über das Leben,
Über das Hin- und Widerschweben,
Lugt’ und lauschte hin und her.
Atme nur in vollen Zügen
Dieses friedliche Genügen
Einsam auf der stillen Flur!
Und hast du dich klar empfunden,
Mögen enden deine Stunden,
Wie zerfließt die Schwanenspur!
Anmerkung zum Gedicht:
Wie ich finde ein sehr interessantes, etwas anderes Herbstgedicht, die Ruhe am Waldsee
wird prinzipiell als genießerischer Augenblick dargestellt "Atme nur in vollen Zügen - Dieses friedliche Vergnügen", kein Wort von Sturm oder Regen.
Besonders zum Reimschema:
Die Strophen sind im Schweifreimschema (aabac) aufgebaut und enden mit Hebungen, Paarreime mit Senkungen. Zu Versbeginn findet ein Wechsel Dieser statt (Versfuß Trochäus, Daktylus in immer wieder vorkommenden Senkungen).
Gottfried Keller, *19. Juli 1819 in Zürich, +15. Juli 1890 ebenda.
Keller war Schriftsteller (z.B. "Der grüne Heinrich") Dichter, nebenbei Maler und im politischen Amt (Erster Staatsschreiber Kanton Zürich)