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von Marie Claire am 15.10.2023 - 12:23 Uhr | melden
Realismus ein weibliches Gesicht gegeben. Vor hundert Jahren wurde die brasilianische Schriftstellerin in Russland geboren
Sie gehörte zu den grossen lateinamerikanischen Dichtern, aber blieb trotzdem eine Aussenseiterin. Doch von den Rändern her hat sie die Erschütterungen ihrer Gegenwart vermessen.
Paul Jandl : 10.12.2020
Die Literatur braucht Dramen, und dass das dramatische Leben von Schriftstellerinnen längst eine Sonderkategorie aus Fiktion und Fakten ist, kann man nicht bestreiten. Die Tragik Sylvia Plaths oder Ingeborg Bachmanns, in der Leben und Schreiben so miteinander verbunden sind, dass das eine fast zwingend mit dem anderen zu tun zu haben scheint, ist wie ein Drama auf offener Bühne.
Offener hätte die Bühne kaum sein können, als Clarice Lispector 1977, nur wenige Wochen vor ihrem Tod, noch einmal ein Fernsehinterview gab. Ihre verwitterte Schönheit, die nach einen Wohnungsbrand entstellte Schreibhand, grandiose Erfolge und Misserfolge waren in einem medialen Raum präsent, der gar nicht alles fassen konnte, was zu erzählen gewesen wäre: über die mondäne Öde im Leben als Diplomatengattin, den Aufbruch in den Journalismus und den Ruhm für ihren Debütroman «Nahe dem wilden Herzen». Das Buch hatte ihr Vergleiche mit Virginia Woolf und Jorge Luis Borges eingebracht und sie an die Spitze der brasilianischen Literatur befördert. Dort aber ist sie immer auch fremd geblieben. Und das ist die andere Geschichte der Clarice Lispector.
Im Zerrspiegel
Geboren wurde die Schriftstellerin 1920 in Tschetschelnyk in Podolien, das heute Teil der Ukraine ist. 1922 flieht die jüdische Familie vor den Pogromen nach Brasilien. Die in der Heimat von russischen Soldaten vergewaltigte und mit Syphilis angesteckte Mutter stirbt früh. Mystisch war die Hoffnung, dass die Geburt einer Tochter die Mutter retten könnte, und die Realität im Kryptofaschismus Brasiliens der zwanziger Jahre erinnert vage an die Umstände in Tschetschelnyk. Jenen Ort der Jiddisch sprechenden Gemeinschaft, wo die Magie von der weltlichen Macht gnadenlos überrollt worden war.
Wenn Clarice Lispector eine Vertreterin des magischen Realismus ist, wie es oft heisst, dann in einer finster karnevalshaften Variante. Im Spiegelkabinett ihrer Prosa stehen die Figuren vor einem verzerrten Selbst. Überlebensgross oder zu einem Nichts geschrumpft, mit monströser Körperlichkeit oder gänzlich verkopft, können sie nichts anderes tun, als den Ausgang aus dem Ort des Schreckens und der Lächerlichkeit zu suchen.
Eines der frühesten Kammerspiele dieser Art ist die Erzählung «Der Triumph». Eine Frau wacht morgens auf. «Von Mattheit gekreuzigt», denkt sie über den vergangenen Abend nach. Ihr Mann, der erfolgreiche Schriftsteller und Lebenstyrann, hat sie verlassen. Er, der sie beherrscht hat in seiner Selbstbeherrschung und Intellektualität. Eigentlich ist sie frei, aber diese Freiheit scheint doch nur ein neues Gefängnis der Abhängigkeit zu sein. Die Freiheit ist eine Kränkung, bis die Frau Notizen des Mannes findet, in denen er seine Unfähigkeit zu schreiben und seine «Mittelmässigkeit» beklagt. Aus den wenigen Zeilen entsteht der Triumph.
Die etwas plakative Idee Clarice Lispectors wird in der Erzählung allerdings zur grossen gestischen Oper. Das haareraufende Pathos der Liebe und die überhöhte Freude nach der Niederlage des anderen sind ein Konzentrat aus allen Beziehungsgeschichten dieser Welt. Das traute Heim als Ort der Gemeinheit und der Heimlichkeiten hat Lispector immer wieder vorgeführt. Nicht selten sind die Liebe und die daraus resultierenden eigenen vier Wände nur ein klaustrophobisches Konstrukt. Ein Hirngespinst in unseren Köpfen, das von den Männern mit Rationalität niedergerungen wird und von Frauen durch Fragen in seiner Fragwürdigkeit sichtbar gemacht wird.
Nicht ohne Grund hat der akademische Feminismus etwa einer Hélène Cixous in den achtziger Jahren Clarice Lispector auf der Liste der Kronzeuginnen ganz oben geführt. Die Zeiten haben sich geändert. Vielleicht hat heute der Feminismus durch #MeToo so sehr einen Drall in die Realität bekommen, dass der magische Realismus von Lispector nicht mehr wirklich relevant ist.
Durch Himmel und Hölle
Gerade in der kompakten Form der kurzen Prosa sieht man, wie Lispectors Welten entstehen. Nach sozialen Explosionen bleiben von ihnen oft nur Ruinen übrig. In den sämtlichen Erzählungen, die jetzt durch die zwei Bände «Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau» und «Aber es wird regnen» versammelt sind, gibt es alle Himmel und Höllen des Lispectorschen Schreibens. Die brasilianische Wirklichkeit, einen Mystizismus ohne Gott und die subversive Religion der Affekte, die die Autorin als intellektuelle Zeremonienmeisterin anheizt. Das Lebensgefühl ihrer literarisch verewigten Frauen ist mit einer knappen Aufzählung auf den Punkt gebracht: «Enttäuscht, resigniert, vollgestopft, verheiratet, zufrieden, mit einer vagen Übelkeit.»
Clarice Lispector hat sich für ihr Schreiben ein Epizentrum gesucht, von dem aus die sozialen Erschütterungen ihrer Gegenwart vermessen werden konnten. Die Verweigerung von linearen Handlungen rührt daher. Und auch eine Erzählweise, die so tut, als wäre der innere Monolog ein ganz normales Upperclass-Kommunikationsmittel. Alles das steckt im Werk von Clarice Lispector. Und ein wenig Kafka. In «Eine Henne» scheint es, als hätte sich eine Frau in ein ungeheures Tier verwandelt: «Sie war ein Sonntagshuhn. Noch am Leben, weil es erst neun Uhr morgens war.»
Quelle : https://www.nzz.ch/feuilleton/clarice-lispector-hat-die-lateinamerikanische-literatur-gepraegt-ld.1590888