Mit einem Geschenk hinterlassen Sie Ihr persönliches Zeichen in Gedenken an Annemarie Schwarzenbach. Veredeln Sie jetzt diese Gedenkseite durch ein Geschenk in Ihrem Namen.
von Elisabeth Volkmer am 08.12.2023 - 11:52 Uhr | melden
Text aus : Sa 19.08.2023 - Der Tag - Historische Frauenreisen (3/3) - von Michaela Gericke, rbbKultur.
Annemarie Schwarzenbach: "Orientreisen – Reportagen aus der Fremde"
"Nach Osten! Anderen Himmeln entgegen!" - ein leidenschaftlicher Ausruf der Schriftstellerin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach im Jahr 1939. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges reist sie mit ihrer Schweizer Kollegin Ella Maillart von Genf bis nach Afghanistan und Indien. Beide gelten als mutige Pionierinnen ihrer Zeit. Annemarie Schwarzenbach hat sich selbst als "unheilbar Reisende" bezeichnet. Immer wieder reizte sie vor allem Afghanistan. Michaela Gericke hat ihre Reportagen über die Reise in dieses Land noch einmal gelesen.
Leidenschaftlich, poetisch und blitzgescheit beschreibt Annemarie Schwarzenbach ihre Reisen gen Orient in den 1930er Jahren. Istanbul, Aleppo, Damaskus, Baghdad, Isfahan, Teheran. 1939 bricht sie wieder einmal auf, diesmal mit der Schweizer Kollegin Ella Maillart im "Ford Roadster de luxe", den Schwarzenbach vom Vater geschenkt bekommen hat:
"Eines Nachts, erinnere ich mich, blieb ich mit zwei geplatzten Reifen zwischen den glutgesättigten und gespensterhaft stillen Gartenmauern eines Dorfes liegen, das sich in Ruinen und sonderbaren Lehmklipppen zu verlieren schien wie im Labyrinth eines dantesken Hölleneingangs."
Eine mutige Reisende
Wie immer findet Annemarie Schwarzenbach Hilfe, Unterstützung, Gastfreundschaft. Natürlich sind sie und Ella Maillart zuvor gewarnt worden: Frauen allein in dieser Gegend, das sei zu gefährlich. Doch der ruhelos Reisenden ist nichts zu gefährlich, nach den eigenen emotionalen und psychischen Abstürzen, nach Depressionen, Morphiumsucht und Entziehungskur.
"Der Aufbruch ist die Befreiung, – oh einzige Freiheit, die uns geblieben ist! – und verlangt nur den ungebrochenen, den täglich erneuerten Mut ..."
Reisen, um das Leben wieder in den Griff zu bekommen
Mit der Reise nach Afghanistan will sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Über den Balkan, die Türkei und den Norden Persiens gelangen die Frauen ins Niemandsland vor Afghanistan:
"Wir hätten Lust, hier noch einmal nach persischer Art im Schatten zu liegen, die Augen im Blau, und Melonen zu essen."
Es ist die Sehnsucht nach einem einfachen, archaischen Leben fern westlicher Zivilisation:
"… drüben, jenseits des jetzt in Halbdunkel gehüllten Wüstenstreifens, liegt Afghanistan. Was ist daran so wichtig und besonders? – Scheiden sich hier zwei Erdteile? – wird das Gelb des Lehms, der hitzige Wind, der Aspekt der weit entfernten Randgebirge wechseln, werden die Ebenen weniger endlos, die Horizonte tröstlicher sein?"
Im "Land ohne Frauen"
Das Reisen bedeutet Annemarie Schwarzenbach "konzentriertes Abbild unserer Existenz" . Nach schier endlosen Pässen über Gebirge werden die beiden Frauen in Afghanistan respektvoll von Männern begrüßt und bewirtet - mit Tee, Trauben und Pilaw, dem traditionellen Reisgericht.
"Aber wir schienen in einem Land ohne Frauen zu sein! Wir kannten wohl den Tschador, das alles verhüllende Faltengewand der Mohammedanerinnen, das mit der romantischen Vorstellung vom zarten Schleier orientalischer Prinzessinnen wenig gemein hat. (Es umschliesst eng den Kopf und ist vor dem Gesicht wie ein Gitterchen durchbrochen und fällt dann in weiten Falten bis zur Erde, kaum die gestickte Spitze und den schiefgetretenen Absatz der Pantoffeln frei lassend. )… Waren die Ansätze zur Freiheit vergessen, die wenigen Wochen des Jahres 1929 aus dem Gedächtnis der Frauen verschwunden?"
Knapp 100 Jahre später sind die Bilder aus Afghanistan fast dieselben
Afghanistan 1929: Damals wollte König Amanullah Khan sein Land – nach dem Vorbild der Türkei – modernisieren, Frauen sollten den Schleier ablegen und Schulen besuchen. Doch die Traditionalisten und Stammesfürsten hatten nach einem Bürgerkrieg gesiegt. Und heute, knapp hundert Jahre später sind die Bilder aus dem Land fast dieselben.
Annemarie Schwarzenbach – weltgewandt, politisch interessiert, bezeichnet Afghanistan zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auch als "empfindliches Nervenzentrum der Weltpolitik":
"Warum sollten die Russen nicht Afghanisch-Turkestan ihren asiatischen Ländern angliedern, ein wenig mehr Baumwolle ernten wollen? Wer würde sie aufhalten, zwischen dem Amu-Darja und dem Hindukusch?"
Sehnsucht nach dem Absoluten
Mit ihrer Kamera und immer wieder mit bildreichen Worten hält Annemarie Schwarzenbach fest, was sie sieht: in Bamiyan, den über 50 Meter hohen, in Stein gehauenen Buddha, schon damals mit zerstörtem Antlitz:
"Keine Stadt mehr, kein Festungstor und keine betenden Mönche. Ein blickloser Buddha, das zerstörte Antlitz dem Mond zugewendet. Wir sind zu spät gekommen, dieses Tal sollte namenlos sein und ohne Erinnerungen."
Im Jahr 2001 wird dieser einst heilige Ort wie viele andere Kulturstätten von den Taliban in die Luft gesprengt. Annemarie Schwarzenbach denkt immer wieder nach über das Werden und Vergehen.
1940 erreicht sie noch Indien, dann kehrt sie zurück in die Schweiz, wo sie 1942 nach einem Fahrradunfall stirbt. Sie ist 38 Jahre alt.
Die "Sehnsucht nach dem Absoluten", das sie im Reisen zu finden glaubte, ist in ihrem Werk bis heute spürbar.
Michaela Gericke, rbbKultur