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Von Sophia 24.03.2021 um 20:13 Uhr | melden
So laut und so verloren war es hier,
als Stille bei uns wohnte anstatt dir.
(Jupiter Jones)
Liebe Ann-Christin,
ich habe diese Liedzeile schon einmal am Jahrestag zitiert, weil sie so gut die schmerzhaften Erinnerungen an die Schreckensnachricht vom 24. März 2015 beschreibt, die mir und so vielen anderen den Boden unter den Füßen weggerissen hat und uns heute, sechs Jahre später, immer noch nicht richtig Halt finden lässt.
Im Minutentakt denke ich heute mit, was damals alles nach der Reihe passiert ist. Der Morgen, als noch alles ganz normal war, als ich und wir alle dachten, es würde ein Tag sein wie jeder andere. Der Vormittag, an dem mir der Himmel so seltsam vorkam, in den ihr aufgebrochen seid, um nach Hause zu euren Lieben zu kommen. Die Aussage meines Vaters, es sei ein Flugzeug abgestürzt. Die Meldung im Radio, in Frankreich sei es gewesen, ein Flieger aus Spanien, viele Deutsche an Bord. In den Medien wurde es lauter, immer lauter. Irgendwann am Abend die Zeile im Videotext, keine Überlebenden, und auch eine Schulklasse sei unter den Opfern. DIe Nachricht hat mich völlig zusammenbrechen lassen.
Und immer noch kann ich es mir nicht richtig vorstellen, was die Nachricht für diejenigen bedeutet haben muss, für die es mehr als nur eine Meldung in den Medien war, so wie deine Eltern.
Nicht: Ein Flugzeug ist abgestürzt. Sondern: Das Flugzeug, in dem mein Kind saß, wird nie mehr ankommen.
Nicht: Es gibt keine Überlebenden. Sondern: Mein Kind lebt nicht mehr.
Nicht: Eine Schulklasse ist unter den Opfern. Sondern: Mein Kind ist heute mit seinen Mitschülern zusammen gestorben.
Wie reagiert der Kopf, wie reagiert das Herz auf diese Nachricht? Wie kann man sie überhaupt aushalten? Es ist für mich ganz schwer zu verstehen, aber ich ahne, dass es keine Worte dafür gibt, und es macht mich so hilflos, dass ich nichts für sie tun kann außer an dich zu denken.
Am nächsten Tag die Bilder vom Absturzort, so viel Aufruhr, und doch so ein leerer und verlorener Ort, an dem es keine Antworten gab, keinen Trost gab, kein Wiedersehen gab.
Und was für mich eigentlich noch schlimmer ist: Zu dem Zeitpunkt, als wir alle erschüttert waren von der Katastrophe, hast du das schon nicht mehr mitbekommen, warst du schon nicht mehr da, war alles vorbei. Es klingt seltsam, aber als mir das bewusst wurde, habe ich wirklich nicht verstanden, warum wir alle anderen noch leben. Warum wir leben, wenn ihr auch nicht mehr leben dürft. Warum sich die Zeit weiterdreht, wenn sie für euch einfach ausgeschaltet wurde. Ich bin in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten oft durch die Straßen gegangen und habe es gehasst, Leute leben zu sehen. Ich habe es nicht mehr verstanden. Und ich verstehe die Ungerechtigkeit bis heute nicht. Warum du, Ann-Christin, warum du??? Es war so eine kurze Reise, so etwas Alltägliches, niemand würde eine Sekunde darüber zweifeln, dass etwas schief geht, und meistens hat man Recht damit. Aber warum nicht bei dir? Und später dann die Frage: Warum hat ein einziger Mensch so viel Macht, über das Leben anderer zu entscheiden? So viel, dass er es sogar beenden kann oder im Falle deiner Lieben zu etwas machen, was den Begriff Leben eigentlich kaum mehr verdient hat bei all dem Schmerz? Warum darf er das, warum verhindert es niemand?
Liebe Ann-Christin, die Fragen zerreißen mir das Herz, und auch heute schmerzt es sehr, draußen die Sonne und all die Menschen zu sehen und zu wissen: Du bist nicht mehr dabei. Du bist auf der anderen Seite, schon sechs Jahre. Und es ist immer noch so, wie es deine Mitschüler in Haltern geschrieben waren: Gestern waren wir viele, heute sind wir allein. Ja, wir sind alleine ohne dich, weil du so sehr fehlst. Wir sind allein gelassen mit unseren Fragen, unserer Sehnsucht und unserer Verzweiflung, die ich am liebsten so laut herausschreien möchte, bis ich keine Stimme mehr habe. Und wir werden nie mehr so viele sein, wie wir einmal waren, denn da bleibt immer diese Lücke an deiner Stelle - die Stille anstatt dir.
Ann-Christin, es tut mir so unendlich leid um dich. Du fehlst mir. Du fehlst deinen Lieben natürlich noch viel mehr. Du fehlst in Haltern und gleichzeitig überall in dieser Welt. Es wird nie mehr so sein wie vor dem 24. März 2015.
Alle meine Gedanken fliegen zu dir, Ann-Christin, wo auch immer du bist, mein Herz ist bei dir.
Deine Sophia