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Gedenkseite für Anja Schatz
Der Tod der Königin
Berlin, Alexanderplatz. Vor dem Kaufhof lungern Penner herum, die nach Schnaps stinken. Ein paar Meter neben ihnen kauern Straßenkinder im Punker-Look. Ihre Gesichter sind von Alkohol und Drogen gezeichnet, niemand ist älter als 17 Jahre. Mit heiseren Stimmen schreien sich Penner und Punker an, im Suff ist ihnen Unterhaltung anders nicht möglich. Hunde bellen, es riecht nach Schweiß und Urin. Angewidert schlagen Passanten einen Bogen um die Schar der Gescheiterten.
Hier ist ganz unten. Tiefer geht es nicht in Deutschland.
Punkerin Doro, 17, schmiegt sich an ihren Hund Fufo, zärtlich gleiten ihre Finger mit den schwarzlackierten Nägeln durch das Fell. Mühsam hält sie die Augen offen. "Braun habe ich überlebt", sagt Doro. "Braun" ist Heroin. Ihr Elend betäubt sie nur noch mit Bier und Lambrusco, aber vom Fixen blieb ihr eine akute Hepatitis C. In zwei Jahren werde ihre Leber streiken, dann müsse sie sterben, hat ein Arzt prognostiziert. "Das ist dann auch egal. Zwei Jahre noch. Und dann bin ich dort, wo Anja ist", sagt Doro.
Die Geschichte der Anja Schatz ist unvergessen in der Szene der Berliner Straßenkinder. Sie fiel auf in den Pulks der Ungewaschenen, die Körperpflege "un-
cool" finden. Geduscht, frisiert und stets mit sauberen Jeans und T-Shirts machte sie Rast, wenn sie sich am Alexanderplatz, an der Gedächtniskirche, im Mauerpark auf dem Prenzlauer Berg oder am Kottbusser Tor erholen wollte vom Schnorren, vom Babystrich und von all den anderen Anstrengungen des Lebens auf der Straße.
Mädchen wie Doro sprechen respektvoll von Anja. "Sie hat nie jemanden beklaut, bei dem sie pennte", sagt sie. Männer wie Andy, 28, der "mal kurz was mit ihr hatte", schwärmen von ihrer "irren Ausstrahlung" - von ihrem Lächeln, ihrem Charme, ihrem Witz.
Anja war heroinabhängig. Für die Junkies war sie eine Lichtgestalt. Denn auch sie hatte "Braun" überlebt, fünf Jahre lang.
"Man sah, dass es geht", sagt Doro.
Das Leben der Anja Schatz endete mit einem Nadelstich. Besucher einer Discothek fanden sie in der Nacht zum 31. Oktober 2003, einem Freitag, kurz nach Mitternacht in einem sogenannten City-Klo an der Dircksenstraße in Berlin-Mitte. Sie lag regungslos am Boden. Als die Polizei
um 0.15 Uhr eintraf, war sie tot. Sie hatte sich den goldenen Schuss gesetzt, eine Überdosis aus einem Mix harter Drogen.
Anja Schatz wurde 18 Jahre alt.
Es hat ein Jahr gedauert, bis Birgit Schatz, 51, mit einem Fremden sprechen konnte über den langen Weg ihrer Tochter in den Tod. Jetzt sitzt sie in ihrer Wohnung in einer badischen Stadt. "Es war furchtbar, sie nicht aufhalten zu können", sagt die Mutter. Sie presst ihre Hände gegeneinander, regungslos, leer, wie steinern wirkt ihr Gesicht. Sie hat keine Tränen mehr.
"Man kann so etwas nicht aushalten. Man versucht, irgendwie weiterzuleben", sagt Birgit Schatz.
Anja war am 29. April 1998, einem Mittwoch, ausgerissen. Sie war das jüngste von vier Kindern, die drei älteren Geschwister waren aus dem Haus. Die Familie stammte aus Halle an der Saale, nach mehreren Ortswechseln lebte Anja damals mit ihrer Mutter in Michelstadt im Odenwald. "Mama, morgen muss ich gehen", hatte sie tags zuvor angekündigt, als sie aus der Realschule nach Hause kam. Ernst genommen hat Birgit Schatz diese Worte nicht: "Wir haben uns immer gut verstanden. Streit gab es nur darum, wann Anja am Abend zu Hause sein sollte."
Als Anja verschwunden war, erstattete ihre Mutter Vermisstenanzeige. Bald spürten Polizisten die Tochter in Berlin auf, sie
wurde zu ihrer Mutter zurückgebracht. So ging es mehr als 30-mal. Dann riet ihr das Jugendamt, hinzunehmen, dass Anja in Berlin leben wolle. Auch mit Hilfe der Polizei werde sie es nicht verhindern können.
Anja wurde ein Straßenkind, eines von Hunderten, die aus Elternhäusern oder Kinderheimen nach Berlin flüchten - in die Hauptstadt der Straßenkinder.
Da war sie 13 Jahre alt.
Schnell lernte sie die legalen und die illegalen Überlebenstechniken der Kids: Schnorren in der U-Bahn, Klauen in Kaufhäusern. Und sie genoss es am Abend, dabei zu sein, wenn die Punks sich mit ihren Hunden und mit Dosenbier vor die Gedächtniskirche setzten wie auf eine Bühne. Zärtlich küssten sie ihre Ratten, andächtig schauten sie den Breakdancern zu.
"Eine geile Stadt, du triffst immer geile Leute. Und dann im Sommer acht Wochen Urlaub am Wannsee mit 15 Punks und 20 Hunden, einfach geil", sagte Anja im Herbst 2000. Da begleitete der SPIEGEL eine Zeit lang einige Ausreißer in Berlin. Zweieinhalb Jahre war sie da schon auf der Straße, zweieinhalb Jahre hatte sie mit ihrem Freund Stöpsel, 16, einem Punk aus dem brandenburgischen Spremberg, "die totale Party, 365 Tage im Jahr", erlebt.
Anja war clean, ein paar Monate schon schien sie ihre Heroinsucht überwunden zu haben. Sie wolle nach jahrelanger Schulschwänzerei den Realschulabschluss machen, kündigte sie an. "Und mit Stöpsel will ich alt werden."
Da war sie gerade 15 Jahre.
"Ich habe mir den Kopf darüber zermartert, wovor Anja geflüchtet ist", sagt Birgit Schatz heute. Drei Kinder hatte sie schon großgezogen, "oft zu streng". Mit Anja wollte sie großzügiger sein. "Aber dass ich eine 13-Jährige nach acht Uhr abends nicht aus dem Haus lasse, ist doch nicht zu streng, oder?", fragt die Mutter.
Sie weiß nicht mehr, was richtig und was falsch war in ihrer Erziehung.
Zu DDR-Zeiten, in Halle an der Saale, hatte die sechsköpfige Familie Schatz ihr Auskommen. Die Frau arbeitete als Verkäuferin, ihr Mann war Kraftfahrer. 1989 wurde zum Schicksalsjahr der Familie. Anjas Vater starb binnen drei Monaten an Magenkrebs. Wenig später ging es mit dem Großvater zu Ende.
"Anja war fünf, als ihr Vater starb. Sie liebte ihn über alles. Sie hat seinen Tod nie verkraftet", sagt Birgit Schatz.
Vielleicht wäre das Leben der Familie weiter in geordneten Bahnen verlaufen, wenn nicht im selben Jahr die DDR zusammengebrochen wäre. Denn von den Segnungen des Kapitalismus hat Anjas Mutter nicht profitiert. Sie wurde arbeitslos und hatte Mühe, ihre Kinder durchzubringen. Nach Jahren vergeblicher Arbeitssuche im Osten siedelte sie 1993 mit ihren beiden jüngsten Kindern in den Westen über. Sie bekam eine Stelle als Verkäuferin in Frankfurt am Main. Mehrfach wechselte sie die Arbeitsstelle, mehrfach
zog sie um. Inzwischen ist sie Managerin eines Fast-Food-Restaurants.
"Anja ist nirgendwo heimisch geworden. Aber was hätte ich anders machen sollen? Ich habe die Arbeit genommen, die ich bekam", sagt Birgit Schatz.
Ihr Leben schien leichter zu werden, als sie sich 1995 in einen hessischen Arbeiter verliebte und Anja, die nun allein bei ihr wohnte, sich scheinbar gut mit ihm verstand. Nach der Heirat zogen die drei nach Michelstadt im Odenwald. Die Ehe zerbrach, als Birgit Schatz 2000 ohne ihren Mann nach Berlin zog. "Ich musste da leben, wo Anja lebte. Ich habe so gehofft, dass sie ihr Leben auf der Straße aufgibt, zu mir zieht und wieder zur Schule geht", sagt sie.
Anja war sieben Monate auf der Straße, als sie im Dezember 1998 im Fernsehen, bei "Vera am Mittag", die Vorzüge ihrer Obdachlosigkeit pries. "Man hat mehr Freiheit, wenn man auf der Straße ist", schwadronierte die pausbäckige 13-Jährige mit heller, kindlicher Stimme. Wenn "kein Aufpasser" da sei, könne sie sich "frei entscheiden".
Birgit Schatz hatte sich von den Fernsehleuten überreden lassen, ebenfalls in der Sendung aufzutreten. Sie ertrug, was Teilnehmer solcher Runden ertragen müssen: oberlehrerhafte Erziehungstipps, platte Anklagen wegen ihres angeblichen Versagens.
Vor ein paar Tagen erst fand die Mutter Hinweise auf ein weiteres Motiv für Anjas Flucht. Als sie Kartons öffnete, in denen Berliner Sozialarbeiter die letzte Habe ihrer Tochter aufbewahrt hatten, stieß sie auf ein Foto von ihrer Hochzeit mit dem Arbeiter aus Hessen. Es zeigt ein glückliches Brautpaar. Birgit Schatz strahlt in weißem Schleier, vor dem Paar steht eine riesige Hochzeitstorte.
Im Gesicht ihres Bräutigams aber klafft ein kreisrundes Loch. Anja hat es mit einer glühenden Zigarette herausgebrannt. Sie muss den Mann, den ihre Mutter liebte, gehasst haben. "Ich habe das nicht geahnt. Sie hat immer so getan, als ob sie gut mit ihm klarkäme", sagt Birgit Schatz.
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